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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Felder
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hat, ließ sich von Ben am Wochenende umnieten. Sie haben sich seitdem noch einmal getroffen, und Ben hat ihr jeweils dreimal eine Ladung verpasst. Und sie ist offen für alles.
    »Ich freu mich so für dich«, sage ich und greife aus absolut keinem Grund in das Fach mit den Weingummibären. »Ihr seid vielleicht füreinander bestimmt, du elender Romantiker.«
    Ben nickt ergriffen. Ich sehe raus. Sein schwarzer Porsche Cayenne-S parkt hinter meinem, auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir beide, im Halteverbot. Ehrensache.
    »Weißt du, Annabelle hat einiges zu bieten. Sie hat Grips.«
    »Aha, hört, hört«, sage ich. »Wir sprechen von der Kassiererin, richtig?«
    »Ja, ja. Weißt du, was sie für einen Traum hat? Sie hat mir erzählt, was sie mal werden möchte!«
    Ich schüttle den Kopf. »Na sag schon!«
    »Was schätzt du?«
    »Weiß nicht, na sag endlich, was denn?«
    »Schmuckdesignerin!«
    Wir lachen herzlich. Dann imitiert Ben die gedämpfte Stimme eines Piloten bei der Borddurchsage, hält eine Faust vor seinen Mund: »Meine Damen und Herren, kein Grund zur Panik, wir haben einen kleinen Notfall an Bord. Kein Grund zur Panik. Wir benötigen Hilfe. Ist zufällig eine … Schmuckdesignerin an Bord?«
    Erneut kichern wir lauthals. Schmuckdesignerin! Lebenstraum! Unsere Köpfe bewegen sich gackernd. Was zu viel ist, ist zu viel.
    Wir kommen in fliegendem Wechsel auf die Team-Zusammenstellung für das Air Linus-Projekt zu sprechen. Wir sind sofort todernst und voll bei der Sache. Ben erstattet mir leise Bericht, was er die vergangenen Tage erarbeitet hat. Er mir. Sonur kann das sein. Ben Kerschenbaum ist ein echter Kumpel im Dschungel der Corporate Identity Welt, in der wir uns bewegen. Ben, der jüdische Posterboy aus gutem Haus. Dunkler Typ, groß, markante Züge, wache Augen. Und wie das bei auffallend schönen, sensiblen Männern oft der Fall ist, ist er außergewöhnlich zuvorkommend und auf Understatement bedacht, ständig bemüht, seine natürlichen Vorzüge durch eine Form selbstauferlegter Befangenheit vergessen zu machen. Das schätze ich an ihm, ein untrügliches Zeichen von Intelligenz.
    Sein Vater: Promi-Anwalt, Berufsjude und Kunst-Mäzen. Mutter: bekannte TV-Schauspielerin und eine Schönheit, 66. Ben steht seiner Mutter sehr nah. Da ich keine Angehörigen habe, achtet er stets darauf, mir nicht zu viel von seiner Familie zu erzählen, da er glaubt, er würde mich dadurch verletzen. Irrtum – und auch wieder nicht. Er kennt nur die offizielle Version meiner Jugend. Bis heute liegt die wahre Geschichte weggesperrt in einer Gruft. Ich schäme mich für sie, mit all ihren traumatischen Erlebnissen. Schließe sie weg. Sie ist mir so zuwider, dass, wenn die Sprache darauf kommt, ich auf eine erfundene, offizielle Version zurückgreife und meine Eltern einfach früh bei einem tragischen Verkehrsunfall gestorben sein lasse. Die Wahrheit habe ich nicht mehr gesagt, seit ich zehn Jahre alt wurde. Bis heute gebe ich nur Ausschnitte einer geschönten Autobiografie preis. Ben weiß bei weitem nicht alles. Niemand tut das.
    Ich kenne meine Eltern nicht. Ich wurde am Tag meiner Geburt in einer Babyklappe ausgesetzt. Nicht gerade ein idealer Ausgangspunkt für ein Leben. Ich kam in ein Heim. Abstellgleis und Gulag in einem. Das kann ich alles nicht empfehlen. Damit möchte ich aber vor allem nicht identifiziert werden. Jeder muss sich die Dinge in die richtige Perspektive rücken.
    Ich schätze, meine Mutter war eine asoziale Drecksfotze.Nein, da bin ich mir sicher, ganz sicher. Ein Kind wegzugeben ist eine bequeme Lösung. Ich weiß nichts über meine Mutter. Habe keine Anhaltspunkte. Wer sie ist, wo sie lebt. Das konnte nie ermittelt werden. Ist vermutlich in ihrem Sinn. Ich werde nicht müde, mir zu sagen: Es gibt keine bessere Rache an ihr als ein gutes Leben. Aber das will mir nicht gelingen.
    Ben versorgt mich von der Seite mit Infos. Die Schlange wird kürzer. Noch einen Schritt vor, endlich. Ich lege die Zeitschriften auf den Kassentisch.
    »Wer kommt dran? Sie?«, fragt der Kioskbesitzer, ein ziemlich langer Lulatsch in Strickweste, Karottenkopf. E-Mensch.
    Die Hände in den Manteltaschen vergraben, ziehe ich ergiebig die Nase hoch und sage dann: »Ahah.«
    »Die alle?« Er sieht mich mit geradezu vernichtender Neutralität an. Ich wedele einmal mit den Mantelschößen, nicke dazu, höre Ben zu, der mir ins Ohr redet. Von hinten, Namen und Fakten.
    Von vorne, Zahlen und Mundgeruch: »39,30«,

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