Parasiten
hat.
Denk ganz fest daran, beam dich weg. Und wehr dich nicht. Sonst nehmen sie dich
nur noch härter ran.«
Sofia nickte, so tapfer sie konnte. Sie glaubte, eine ungefähre
Ahnung zu haben von dem, was auf sie zukam. Sie irrte sich. Es war schlimmer.
Viel schlimmer.
Es dauerte fünf Stunden, bis man sie zurückbrachte. Sie
spürte jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper, jede einzelne Faser, und doch
spürte sie nichts, war taub und tot. Zwei der Mädchen waren schon vor ihr
zurückgebracht worden und lagen, die eine wimmernd, die andere stumm vor sich
hin starrend, auf ihren Pritschen. Zwei andere fehlten noch.
Sofia ließ sich auf ihr Bett fallen. Katya kletterte von oben herunter,
setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand.
Eine Zeit lang sagten beide nichts. Dann fragte Katya: »Willst du
duschen? Ich helfe dir.«
Sofia nickte dankbar. Katya packte sie fest mit beiden Händen und
führte sie zum Duschraum. Bei jedem Schritt drohten Sofias zitternde Beine zu
versagen. Sie stand unter der Dusche wie ein Zombie, konnte sich nicht rühren.
Hielt sich mit den Händen an der gekachelten Wand fest, legte den Kopf in den
Nacken und trank das kalte Wasser. Heißes gab es nicht. Katya seifte sie ein.
Es war Sofia nicht peinlich.
Dann brachte Katya sie zu ihrem Lager zurück, legte sie hin und
deckte sie zu bis zum Kinn. Wieder hielt sie ihre Hand. »Sie nennen das
›Einreiten‹. Damit dein Widerstand gebrochen wird und dein Wille. Damit du dich
in Zukunft nicht gegen die Kunden wehrst. Egal, wie ekelhaft sie sind und was
sie mit dir anstellen.«
Sofia nickte. »Machen sie das mit allen? Auch mit Alina?«
»Ist Alina noch Jungfrau?«
Sofia schüttelte den Kopf: »Sie war mit sechzehn schrecklich in
einen Jungen namens Dimitrii verschossen. Sie hat mir gesagt, es wäre schön
gewesen.«
»Sie untersuchen das bei den ganz jungen Mädchen. Wenn sie noch
Jungfrau sind, lassen sie sie in Ruhe. So erzielen sie einen viel höheren Preis
bei der Versteigerung.«
Sofia fing an zu weinen.
Mariazell, Österreich.
Walter Ramsauer saß auf einer Bank vor der Alm seiner Eltern
und sah seiner Frau Merle beim Spielen mit dem Baby zu. Erst langsam kam der
Frühling auch hier in den Höhen der Obersteiermark an. Es war der erste Tag, an
dem Merle ohne Mütze und Schal draußen war. Das erst sechs Monate alte Baby,
ihr Sohn Artur, war weiterhin dick eingepackt. Walter konnte es immer noch
nicht fassen, dass er jetzt, mit seinen siebenundfünfzig Jahren, noch Vater
geworden war. Merle, seine ehemalige Studentin an der Hamburger Journalistenschule,
war einundzwanzig Jahre jünger als er und hatte sich unbedingt ein Kind
gewünscht. Zuerst hatte Walter gezögert. Er wollte nicht in ein paar Jahren zu
alt sein, sein Kind zu tragen, wenn es vom Spazierengehen müde wurde. Er wollte
nicht, dass sein Kind sich schämte, wenn er es zur Schule brachte und die
Mitschüler fragten, ob der alte Herr sein Opa sei. Aber schließlich hatte Merle
ihn überredet, und jetzt war er dankbar dafür. Wenn er seinen Sohn ansah, sah
er Zukunft. Ähnlich war es ihm mit Henning Petersen gegangen. In ihm hatte er
den Eifer und das Feuer seiner eigenen Jugend wiedererkannt.
Merle legte Artur sanft in seinen Kinderwagen und deckte ihn zu.
Dann kam sie zu Walter und setzte sich neben ihn. Sie ließ den Blick über das
Tal schweifen. »Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass du diesen Ort jemals
gegen eine stinkende Großstadt eingetauscht hast.«
Er legte lachend den Arm um Merle: »Es ging mir eben schon als
Sechzehnjähriger auf den Wecker, immer nur über Hasenzüchter, Kuh- und
Käsebauern und lästige Ski-Touristen zu berichten.«
»Es gibt schließlich noch mehr im Leben als die neueste Schlagzeile«,
sagte Merle leise.
Walter schwieg. Diese Diskussion hatten sie schon oft geführt. Er
wollte jetzt nicht wieder damit anfangen.
Nach einer Weile sah ihn Merle von der Seite an: »Du bist in letzter
Zeit so … abwesend. Sogar, wenn du mit Artur spielst. Denkst du noch über
deinen Volontär nach?«
Walter schwieg.
»Die Polizei hat gesagt, dass sein Zimmer durchwühlt worden ist.«
»Wenn Henning an etwas Brisantem gearbeitet hätte, dann wüsste ich
es. Er hätte mich um Rat gefragt.«
Merle blickte ins Tal und überlegte. Dabei wiegte sie mit der linken
Hand leicht den Kinderwagen. »Vielleicht hat er das«, sagte sie schließlich
leise.
Walter blickte sie fragend an.
»Am Tag unserer Abreise … Du warst schon draußen und hast
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