Parasiten
Das stimmte zwar nicht, denn Walter fühlte sich als
Vollblutjournalist seinem Berufsethos und dem Recht der Öffentlichkeit auf
Information verpflichtet und hatte eine Vorkehrung getroffen, damit das
Material beim Chefredakteur des Spiegels landete. Falls ihm wider Erwarten
etwas zustoßen sollte, würde er wenigstens posthum im Blatt seiner Wahl genannt
werden. Die Pupillen seines Gegenübers hatten sich bei der Erwähnung der
Polizei allerdings unwillkürlich ein wenig geweitet – ein Zeichen von Angst.
Walter überquerte den Jungfernstieg zur anderen Straßenseite und sah
sich hin und wieder um, ob ihm jemand folgte. Er ging ins Alsterhaus hinein und
tauchte ein in die Menge der Passanten. Mit der Rolltreppe fuhr er mehrmals auf
und ab, verließ das Alsterhaus wieder und ging hinüber zur Passage. Von dort
gab es mehrere Zugänge zu dem Parkhaus, in dem er seinen Wagen abgestellt
hatte. Inzwischen war er sicher, dass ihm niemand folgte. Er setzte sich in
sein Auto und ließ den Motor an. Morgen würde er den Kerl noch einmal anrufen
und den Druck massiv erhöhen.
Die Frau, die hinter ihm die Erdbeer-Parkebene betrat und an seinem
Wagen vorbeistöckelte, als er rückwärts aus der Parklücke stieß, fiel ihm nicht
weiter auf. Sie war ja fast noch ein Mädchen. Walter Ramsauer war in die
typisch männliche Falle der selektiven Wahrnehmung getappt und hatte dabei auch
das journalistische Prinzip der Unvoreingenommenheit missachtet. Unbewusst
hatte er nur überprüft, ob ihm ein Mann folgte. Frauen stellten für ihn
höchstens eine Gefahr im Straßen- oder sonstigen Verkehr dar.
Berlin.
Christian saß mit Pete und Volker in der letzten Reihe der
kleinen Feierhalle des Krematoriums Berlin-Baumschulenweg, einem
beeindruckenden Gebäude, das von den international renommierten Architekten
Axel Schultes und Charlotte Franke geplant war, wie Volker interessiert einem
Folder entnahm. Die vorgeschriebene zweite Leichenschau an Maxym Savchenko war
gestern vorgenommen worden und der Leichnam zur Einäscherung freigegeben. Der
Sarg war zur Feier aufgebahrt, aber geschlossen. Nach der Feier würde er zur Einäscherungsanlage
gebracht werden. Die Urne wollte Frau Savchenko danach mitnehmen und in
Russland bestatten lassen.
Christian hoffte, dass Danylo bei der Trauerfeier seines Vaters
erscheinen würde. Damit er ihm diesmal nicht wieder durch die Lappen ging,
hatte er Pete und Volker mitgebracht. Die Fahndung nach Danylo Savchenko war
aufgehoben, es lag nichts gegen ihn vor. Christian besaß keinerlei rechtliche
Handhabe, den jungen Pianisten festzuhalten. Dennoch wollte er unbedingt mit
ihm reden und ein paar Fragen beantwortet haben, und wenn er ihn dafür an den
Ohren in eine ruhige Ecke würde schleifen müssen. Vor der Zeremonie hatten sie
die Lage aller Ein- und Ausgänge überprüft und sich einen Überblick über Fluchtmöglichkeiten
verschafft. Dabei hatte Volker das Gebäude bewundert, als wäre er in einem
früheren Leben Architekt gewesen. Inzwischen war er in den Folder vertieft,
statt nach ihrer Zielperson Ausschau zu halten. »Hier steht ein Zitat des
Architekten Axel Schultes: ›Es galt einen Ort herzustellen, der das
Vergängliche und das Endgültige ausbalanciert, das Schwere deutlich und
Erleichterung möglich macht.‹ Schön formuliert, oder?«
»Extrem schön, echt, ich bin voll krass berührt, so innerlich«,
sagte Christian spöttisch. Volker sollte sich gefälligst auf seine Aufgabe
konzentrieren. Obwohl es wahrlich keine drei Augenpaare brauchte, um Danylo zu
entdecken, falls er auftauchen sollte. Anwesend waren neben dem Personal des
Krematoriums nur ein russisch orthodoxer Priester, Maxyms Nachbar und Freund,
der türkische Gemüsehändler und die Ehefrau des Toten. Dann setzte die Musik
ein. Christian kannte sich mit Klassik nicht aus, aber es klang ganz schön,
fand er. Irgendwie mächtig.
»Das ist die Toccata und Fuge in d-Moll von Bach«, flüsterte Pete ihm zu.
Christian fragte sich, ob er der einzige Kulturbanause in
seiner Truppe war. Klassik interessierte ihn fast so wenig wie Architektur. Das
Intellektuellste, was er hörte, war Frank Zappa. Und wenn es um geometrische Formen
ging, dann brauchte er kein »form follows function«, ihm reichte »das Runde
muss ins Eckige«. Während Christian innerlich noch ein wenig mit seinem Banausentum
haderte, stieß ihm Volker in die Rippen.
Danylo war angekommen. Mit einer stocksteifen Umarmung begrüßte er
seine Mutter. Der Handschlag,
Weitere Kostenlose Bücher