Parasiten
oder sitzend auf seinem
Lieblingssessel. Dabei hatte er unaufhörlich die Wände angestiert. Erst wenn
sich die Nacht über Hamburg legte, hatte er die Vorhänge geöffnet und das Spiel
der Autoscheinwerfer auf den gegenüberliegenden Hauswänden beobachtet. Er hatte
sich von Dosensuppen ernährt, wollte die Wohnung nicht verlassen, keinem
Menschen begegnen, nicht einmal der Kassiererin im Supermarkt ins Gesicht
blicken. Nach vier Tagen war er aus seiner Starre erwacht und hatte
beschlossen, nach Österreich zurückzukehren. Zurück zwischen die Berge, deren
Wände ihm den Blick auf die Welt verstellten und ihn in ihren Schluchten
bargen.
Walter schulterte sein Gepäck und machte sich auf den Weg zur
elterlichen Alm. Er wollte die knapp acht Kilometer zu Fuß gehen. Einerseits tat
er mit dem stetig aufsteigenden Gewaltmarsch eine Art Buße, andererseits
zögerte er die Ankunft noch etwas hinaus. Walter war sich nicht sicher, ob
Merle ihm verzeihen würde.
Schon bei den ersten beiden beschwerlichen Kilometern begann er zu
schwitzen und spürte den pochenden Schmerz in seinen Fingern. Er hatte die
Wunden in Hamburg nicht versorgt. Nur angestarrt. Inzwischen waren sie
verkrustet. Er musste mehrere Pausen einlegen, setzte sich dafür auf Bänke am
Wegesrand oder auf Findlinge. Die Luft duftete frisch und klar nach Frühling
und Alpenveilchen, der Weg war gesäumt von Anemonen, Waldgoldstern und
Vogelwicken. Der Anblick der aufs Neue erwachenden Natur machte Walter Mut.
Vielleicht würde auch er noch einmal von vorne anfangen können. Ganz anders diesmal.
Ganz neu. Bitter lachte Walter über sich selbst. Wie billig das war.
Als er auf der Alm ankam, war die Sonne längst hinter den Bergen
verschwunden. Schon von Weitem sah er, dass in der Küche Licht brannte. Sie
saßen beim Abendbrot. Er war noch etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt, da
schlug der Hund an. Sein Vater kam ans Fenster und spähte hinaus. Dann traten
alle vor die Tür: seine Mutter, sein Vater und auch Merle mit Artur auf dem
Arm. Der Hund schoss auf Walter zu und leckte ihm beide Hände ab. Walter hätte
die relative Kühle der Hundezunge an seiner verletzten Hand sicher als angenehm
empfunden, wenn er darauf geachtet hätte. Doch er hatte nur Blick für Merle.
Sie stand unschlüssig auf der Holzveranda, während Walters Mutter ihren
verlorenen Sohn mit Tränen und Beschimpfungen und Lachen und Küssen begrüßte.
Sein Vater nickte nur, schlug ihm kurz auf die Schulter und räusperte sich
bewegt. Unsicher ging Walter auf Merle zu. Sie zögerte noch immer, doch
schließlich kam sie ihm entgegen, legte ihren freien Arm um ihn und küsste ihn.
Dann reichte sie ihm glücklich lächelnd das Baby. Artur gluckste vor Vergnügen.
Walter sah seinem Sohn in die Augen und fühlte sich zu Hause.
Beim Abendbrot bestürmte ihn seine Mutter mit Fragen, doch er machte
ihr klar, dass er über die Ereignisse der letzten Woche nicht reden wollte.
Heute nicht und auch an keinem anderen Tag. Verstummt sahen alle auf seine
geschwollenen Finger. Die Mutter erhob sich und brachte ihm Wundsalbe. Doch
Walter schüttelte unwirsch den Kopf und ging hinaus. Er setzte sich auf die
Veranda und schaute die Berge an.
Er würde hier bleiben. Merle wünschte sich das auch, das wusste er.
Sie wollte ihren Sohn in einer weitgehend intakten Natur aufwachsen sehen,
wollte, dass er draußen spielen konnte und Hütten im Wald baute und im Winter
mit dem Rodelschlitten und später auf Skiern ins Tal brauste. Sie träumte von
einer heilen Welt abseits der Großstadt.
Walter wusste, dass es keine heile Welt gab, hier nicht, nirgendwo.
Aber auch er wollte hierbleiben. Zwischen den Bergen konnte er sein Versagen
begraben.
Walter Ramsauer war ein gebrochener Mann. Aber es war nicht die
Folter, die ihn gebrochen hatte. Es war die Scham.
ANDANTE
Zuerst habe ich gedacht, dass ich
sterben muss. Sterben erschien mir eine gute Wahl, denn das Krabbelzeugs unter
meiner Haut, das ist so ekelhaft, dass damit kein Mensch leben will. Das
Problem war, dass ich keine Hilfe hatte. Keiner hat mir geglaubt. Die Parasiten
scheinen genau zu merken, wenn ich jemanden nachsehen lasse. Dann stellen sie
sich tot. Man nennt das »Vorführeffekt«. Klappt nie. Trotzdem hab ich lange
gehofft, dass mir jemand glaubt. Ich bin ja nicht verrückt, im Gegenteil! Aber
alle haben mich im Stich gelassen. Deshalb wollte ich mich aufgeben. Wollte
meinen Körper wehrlos den Parasiten überlassen. Sollten sie doch
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