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Parasiten

Parasiten

Titel: Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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Mund.
    »Tief durchatmen«, empfahl Nina im Tonfall einer wohlmeinenden
Krankenschwester.
    Walter japste nach Luft. Langsam ließ der Schmerz nach.
    Nina hatte die Schere beiseitegelegt und sah ihn erwartungsvoll an.
»Was halten Sie von meinem Gegenvorschlag?«
    In Walters Kopf raste es. Er konnte, er durfte ihnen das Material
nicht geben, dann würden sie ihn töten, das war ganz sicher. Er hatte
standgehalten, sie würden aufgeben. Wenn sie merkten, dass er ein harter Hund
war, würden sie ihn laufen lassen. Sie konnten nicht riskieren, ihn zu töten,
sonst würde die Polizei informiert werden. Zumindest dachten sie das.
    »Sie müssen mich gehen lassen. Sonst ist Ihr Auftraggeber dran!«
Walter versuchte, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. Auch er selbst
wollte sich nicht eingestehen, dass eisige Todesangst von ihm Besitz ergriff
und jeden klaren Gedanken in ihm lähmte. Das Zittern, dieses elende Zittern,
das war doch nur wegen der Kälte.
    Nina nickte dem Mann zu. Der zündete einen Kerzenstummel an, steckte
ihn in einen Kerzenständer und stellte ihn auf den Tisch. Nina nahm mit der
Pinzette ein dünnes Metallplättchen aus einer Art Pillendose. Es war nicht mal
ein Viertel so groß wie eine Briefmarke.
    Walter beobachtete sie mit starr fixiertem Blick. Das Zittern wurde
schlimmer. Magensäure stieg nach oben. Seine ganze Speiseröhre brannte wie
Feuer. Seine Haut hingegen war von einem eiskalten Schweißfilm überzogen.
    Nina erhitzte das Plättchen mit ruhiger Hand über der Kerze, bis es
rot glühend war.
    Walter begann unkontrolliert zu zucken. Es fing in seiner Hand an
und ging auf den ganzen Körper über. Er spürte, wie warmer Urin seine Beine
hinunterlief.
    Der Mann stopfte Walter den Öllappen zurück in den Mund, legte seine
schwere Pranke auf Walters Hand und drückte sie platt auf den Tisch, sodass
Walter seine Finger keinen Millimeter mehr bewegen konnte. Nina schob das
glühende Metallplättchen mit Hilfe der Pinzette zwischen Fingerkuppe und
Nagelunterseite von Walters Zeigefinger. Walter schrie schon bei der ersten
Berührung auf, doch sie rammte ihm das heiße, scharfkantige Plättchen noch
tiefer unter den Nagel. Walter konnte sein verbranntes Fleisch riechen, dann
wurde er ohnmächtig.
    Als er wieder zu sich kam, hielt Nina ein zweites, noch unblutiges
Metallplättchen über die Kerze. Walter begriff. Im wirklichen Leben lief es
nicht wie im Film. Helden, die Folter widerstanden, existierten nur in der
realitätsfernen Phantasie von Hollywood-Drehbuchautoren. James Bond war kein
Mensch, er war eine Idee. Eine Idee spürte den Schmerz nicht wirklich. Er
jedoch, Walter Ramsauer, war ein Mensch und würde wie jeder normale Mensch
alles verraten und jeden verkaufen, falls Nina ihm noch einmal mit dem
Metallplättchen zu nahe kam. Dabei ging es nicht mehr ums Überleben. Auch jetzt
war ihm in einer hinteren Windung seines Gehirns noch sehr wohl bewusst, dass
sie ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit töten würden, sobald er
ihnen sagte, wo er versteckt hatte, was sie suchten. Aber das war ihm jetzt
absolut egal. Das Einzige, was noch existierte, war der schlichte Zusammenhang
von Ursache und Wirkung, die Wahl zwischen den Alternativen Metallplättchen
oder Materialherausgabe.
    So wie man eine übergroße Aufgabe am besten in kleine Einzelschritte
einteilt, um sie überschaubar zu halten, so schaltete Walters Gehirn von dem
umfassenden Gedanken seiner Überlebensstrategie hin zu dem speziellen Schritt,
seinen nächsten Finger vor dem nächsten Metallplättchen zu schützen. Nichts
sonst besaß noch irgendeine Bedeutung. Die Angst vor dem Schmerz war größer als
alles andere, sie füllte die ganze Welt des Walter Ramsauer aus. Es gab nichts
mehr in ihm als den unbedingten Willen, den Schmerz zu vermeiden. Jetzt.
Sofort. Für alle Zeiten. Um jeden Preis. Um wirklich jeden Preis. Sein angeborener Überlebenswille war zusammengeschmolzen auf die Fläche
eines winzigen glühenden Plättchens.
    Walter sagte der Frau weinend, was sie wissen wollte.

 
    26. April 2010
Mariazell.
    Die Sonne stand schon tief, als Walter Ramsauer mit der
Ötscherbär-Bahn aus Sankt Pölten an seinem Heimatbahnhof ankam. Seine Familie
wusste nichts von seiner Rückkehr. Er hatte die besorgten Anrufe seiner Mutter
ignoriert. Die Tage und Nächte, die seit seiner Begegnung mit Nina, der
Maniküre-Spezialistin, vergangen waren, hatte er in seiner abgedunkelten
Wohnung verbracht – liegend auf dem Sofa

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