Parasiten
Drahtes
wieder auseinander und formte eine Öse. Sie schob den Draht unter der Tür
hindurch. Der Abstand zwischen Tür und Boden war breit genug. Wenn sie in der
Heizkammer lag und er noch im Raum davor im Pool schwamm, drang stets ein sehr
breiter Streifen Licht in ihre Dunkelheit. Durch diesen Lichtstreifen war sie
auf die Idee gekommen.
Der Draht kratzte über die Fliesen. Einige Sekunden, die ihr endlos
schienen, suchte und kratzte sie im Leeren. Dann hörte sie das metallische
Geräusch des Schlüssels, den sie endlich mit dem Draht erreicht hatte und nun
bewegte. Es dauerte weitere Minuten, bis sie den Schlüssel unter der Tür
hindurch in ihre Kammer ziehen konnte. Sie hielt inne und lauschte wieder.
Stille. Langsam, ganz langsam führte sie den Schlüssel von innen in das Schloss
und drehte ihn um. Sie konnte es kaum fassen, als die Tür aufging. Mit
angehaltenem Atem nahm sie ihre Schuhe in die Hände, die sie neben der Tür
bereitgestellt hatte, und verließ ihre Kammer. Auf Zehenspitzen schlich sie
durch den Poolraum, tastete sich an den Wänden entlang, bis sie zu der Tür kam,
die vom Souterrain in den Garten führte. Der Schlüssel hier steckte immer, das
hatte sie oft genug gesehen.
Als sie in den Garten trat, schlug ihr nächtliche Kühle entgegen. Es
regnete. Sie hob die Augen zum Firmament und atmete tief durch – wie lange war
sie schon nicht mehr draußen unter freiem Himmel gewesen? Barfuss überquerte
sie den Rasen. Erst hinter dem Zaun zog sie ihre Schuhe an. Sie sah sich um.
Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen. Nichts als brachliegende Felder.
Es war ihr egal. Irgendwo würden Häuser, würden Menschen sein. Sie musste nur
laufen. In irgendeine Richtung. Sie ging in Richtung Mond, der schwach zwischen
den Regenwolken hindurchschien. Sie wollte endlich wieder ans Licht.
Nach knapp zwei Kilometern kam sie an einen Waldrand. Inzwischen
goss es wie aus Kübeln. Sie überlegte. Wenn sie in den Wald hineinging, fand
sie etwas Schutz vor dem Regen. Aber sie konnte sich verlaufen. In einem
dunklen Wald war es schwierig, die Richtung zu halten, man konnte stundenlang
im Kreis gehen, ohne es zu bemerken. Sie beschloss, am Waldrand entlangzulaufen,
und hoffte, dass der Forst nicht allzu groß war. Deutschland war dicht
besiedelt, irgendwann musste sie auf ein Dorf oder eine Stadt treffen.
Der Regen kühlte sie immer mehr aus, der Boden wurde matschiger. Das
Haar klebte ihr im Gesicht, die Kleidung triefte, die Jeans waren komplett
vollgesogen und zogen sie wie kalte Gewichte nach unten. Ihre hochhackigen
Pumps waren zu eng und vollkommen ungeeignet für das Gelände, doch sie besaß
keine anderen Schuhe. Ihre Fersen waren schon wund. Jeder Schritt schmerzte. Sie
setzte sich hin und untersuchte ihre Füße. Beide Fersen bluteten. In diesen
Schuhen würde sie nicht weiterkommen. Sie warf sie in den Wald. Der kühle Boden
tat ihr bei den ersten Schritten gut, doch nach wenigen Minuten froren ihre
Füße. Niemals hätte sie vermutet, dass es Ende Juli in Norddeutschland so
unangenehm frisch sein konnte. Ihre schlechte körperliche Verfassung tat ein
Übriges. Gestern am späten Nachmittag hatte er ihr den letzten Schuss gesetzt.
Morgen würde sie mit heftigen Entzugserscheinungen zu kämpfen haben. Schon
jetzt brach ihr andauernd kalter Schweiß aus, und ihr Magen krampfte sich in Wellen
zusammen.
Sie kämpfte sich wieder hoch, obwohl sie am liebsten liegengeblieben
wäre. Einfach nur schlafen. Inzwischen war der Himmel komplett von dicken
Wolken bedeckt. Sie sah die Hand nicht mehr vor den Augen, stolperte durch
Gestrüpp, trat auf einen scharfkantigen Stein, der ihr die Fußsohle aufriss.
Humpelnd lief sie weiter. Nach einer weiteren Stunde oder zweien hatte sie
jegliche Orientierung verloren. Plötzlich wurde das Gelände leicht abschüssig.
Auf dem durchweichten Boden geriet sie ins Rutschen. Sie verlor den Halt,
schlitterte eine Böschung hinab und landete in einem See. Völlig überrascht
schluckte sie jede Menge Wasser, schlug panisch um sich. Mit letzter Kraft zog
sie sich an einem Busch aus dem Wasser und kletterte auf allen vieren die
Böschung wieder hinauf. Schlammbedeckt und am Ende ihrer Kräfte blieb sie liegen.
Fünf Stunden später, in aller Herrgottsfrühe, schlug Toni, der
Tigerdackel eines Spaziergängers, wie wild an. Auf der Jagd nach einem Hasen
hatte er ein nur noch halb lebendiges Bündel aus Dreck, Schüttelfrost und
Fieber gefunden.
Oslo.
Wie fast immer in
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