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Paravion

Paravion

Titel: Paravion
Autoren: bouazza
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flüsterte sie weinend, »mein Kind, ich werde dich nicht verlassen.« Das wiederholte sie immer wieder, und bevor sie starb, sagte sie etwas, das Cheira und Heira nicht verstanden, die letzten Silben hörten sich an wie »bleiben«
    oder »schreiben«. Offenbar delirierte sie, denn sie blieb weder noch konnte sie schreiben. Vielleicht meinte sie ja Baba Baluk damit, wer weiß. Es fiel eine vollkommene Stille, das Baby atmete schnell, die Zwillinge drückten Mamurra die Augen zu und legten sich das Kind, nachdem sie es nur mit Mühe der klammernden Umarmung der Mutter hatten entreißen können, auf den Schoß und ließen voller Trauer die Köpfe hängen.
    Sie begruben Mamurra unter dem Feigenbaum. Jeden Abend besuchte eine Eule das Grab und stimmte eine monotone Elegie an. Cheira und Heira kümmerten sich um den Jungen, wie sie sich um Mamurra gekümmert hatten. Sie nannten ihn Baba Baluk, nach seinem Vater und Großvater. Er wurde gestillt und bekam vierzig Tage lang Harmel eingeflößt, damit er Kräfte sammeln und tief durchschlafen konnte. Sie beschmierten seine Handflächen mit Henna, damit die Fingernägel nicht wuchsen, färbten seine Augenlider gegen das böse Auge mit Indigo, und um den Hals knüpften sie ihm ein Amulett mit Harmel, gegen Erdgeister und die Mutter der Nacht, und ans Ohr hängten sie ihm einen Kupferring, abermals gegen das böse Auge. Trotzdem wurde das Kind später empfänglich für das Flüstern und Murmeln von Finsternis und Tal. Das Abqar-Tal war nun einmal ein Ort der Heimsuchung.
    Mit zwei Jahren beschnitten ihn die Zwillinge, danach brach eine Zeit der Verwöhnerei an. Um die Knöchel schnürten sie ihm ein kleines Säckchen mit Salz und Kräutern, damit sein Striemelchen rascher verheilte. Sie legten ihn sich auf den Schoß und lausten ihn. Hörbar zerknackten sie die Tiere zwischen den Fingernägeln: »Da, guck mal, was für ein großer!«
    Mit fünf nahmen sie ihn zum ersten Mal auf dem Esel mit ins Badehaus. Dort lehrten sie ihn die Funktionen seiner Anatomie und zeigten ihm auch das Schwalbennest, dem er entflogen war.
    »Siehst du, aus solch einer Rührbutte bist du gekrochen, und eines Tages wirst du nichts lieber wollen, als dahin wieder zurück, und zwar mit deinem Lausewenzel hier.« Und sie deuteten auf seine kleine Rute, der sie diesen Ammennamen gegeben hatten. Ihr rauhes Gelächter brach sich an den Fliesen des Badehauses. Sie lachten nur noch selten. Nach Mamurras Tod war Trauer in ihren Herzen und in ihre Blicke eingezogen.
    Im Dampf bewegten sich monsterhafte Schatten. Die beiden schrubbten den Jungen, als ginge es um Leben und Tod.

    Abgestorbene Haut löste sich; wie schwarze Würstchen, sagten sie.
    Baba Baluk erschrak zutiefst, als er Cheira und Heira nackt sah. Woher hätte er auch wissen sollen, daß die beiden siamesische Zwillinge waren? Er sah die grobe Naht, die sie an den Körperseiten miteinander verband, ein schlampiger, fleischiger Batzen Teig; jede von ihnen hatte ihr eigenes Herz und jeweils einen Arm; sie teilten sich ihre Rührbutte, und hätte Mamurra sie jemals so gesehen, dann hätte sie gewußt, daß die beiden nicht gespaßt hatten, als sie behaupteten, sie hätten vergessen, wo diese liege. Irgendwo zwischen den massigen Fleischfalten und der ewigen Dämmerung mußte sie geblieben sein. Sie hatten zwei Beine, die jetzt ausgestreckt auf dem Boden lagen und die sie gerade hingebungsvoll kratzen.
    Wer von beiden die schwerere Last trug, war nicht zu entscheiden, und wer aus wem herausgewachsen war, auch nicht. Baba Baluk brach in untröstliches Weinen aus. Nach beendigter Waschung glänzte er in seinem neuen Gewand, das die Zwillinge für ihn gekauft hatten, wie Ebenholz. Das Sonnenlicht glitt an seiner Haut herab.
    Als Baba Baluk sieben wurde, brachten Cheira und Heira ihn ins Abqar-Tal, zum Grundstück mit den Feigenbäumen, das er geerbt hatte. Sie gaben ihm einen Krummstab und eine Schäfertasche. Von nun an mußte er die beiden Ziegen seines Vaters hüten. Ein kleiner Bach, der gerade laufen gelernt hatte, holperte unter den Bäumen entlang, und Gras sproß dort für sein Vieh. Die jungen Halme bewegten sich im Wind, erstaunte Keimlinge in einer neuen Welt. Unter dem Baum hatte sich ein Findling niedergelassen, er hatte dort eigentlich nur etwas Kühlung gesucht und mußte jetzt erkennen, daß seine Reise hier zu Ende war: Er wurde zum Sitzplatz des jungen Schäfers. Dort aß Baba Baluk mittags Roggenbrot mit Käse und Oliven. Seine
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