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Paravion

Paravion

Titel: Paravion
Autoren: bouazza
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Fingerspitzen wurden ganz gelb von den Mandarinen und Orangen, die er Tag für Tag schälte und tropfend verschlang. Danach hielt er einen Mittagsschlaf.
    Der Postbote verließ das Dorf. Weil um die Mittagszeit immer alle Siesta hielten, sah nie jemand, daß währenddessen Tag für Tag in einer Fata Morgana Paravion auftauchte: graue Kuppeln von alten Kirchen, verwitterte Kirchtürme, in denen Glocken zwar glitzerten, doch schwiegen, obwohl sie einst vermutlich lang und wohllautend geklungen hatten. Andere schlanke Türme überragten sie, zu welchen Gebäuden sie gehörten, war nicht zu erkennen, so hoch reichte die Fata Morgana nicht. Auf den Stromleitungen der Straßenbahnen schliefen die Spatzen, wunderliche Wolken schmückten den Azur, und überall an diesem glückseligen Ort atmete reiches Schattenlaub, eine grüne Antwort auf die Baumwolle, die am Himmel wuchs.
    Der Postbote schauderte durch die Luftspiegelung, als führe er durch flappernde Schleiergewänder, er stoppte sein Solex vor den Toren der Stadt und stieg ab. Dann warf er sich die Posttasche über die Schulter, spuckte aus, nickte den Torwächtern zu und betrat Paravion.

    II

    1
    Ein Mandelbaum blühte als erster.
    Auf Befehl des Windes hin huben die Bäume im Tal an zu sprechen, sie schüttelten die Blätter wie Waschfrauen am Waschtag ihr Leinzeug, der Bach strömte entschlossen und brachte Abkühlung, die Feigen reiften. Im Wasser trieben Goldfrüchte, die die Sonne fallen ließ. Die Ziegen waren wohlgenährt, und in ihrem Meckern klang ein trauriges Vibrato. Baba Baluks Stirn war schön rund, er hatte den Mund seiner Mutter, die Oberlippe war bei den Schneidezähnen etwas aufgeworfen, die Unterlippe hing leicht herunter, ein kleines Becken bildend, in dem Speichel glitzerte und das das Zahnfleisch entblößte. Er hatte eine reizende, runde Stupsnase, und seine Wimpern wölbten sich stolz wie die Blätter einer vollerblühten Lilie. Im Weiß seiner Augäpfel lag ein weiter, diesiger Himmel. Die genetischen Wunder seiner Mutter glommen an verschiedenen Stellen. Der Rücken war hohl und der Bauch rund, sein Hintern sprang hervor. Die Sohlen seiner hornhäutigen Füße waren wie grobe gelbliche und rosafarbene Schuhe, weil er immer barfuß ging. Er war schweigsam, bewegte sich still und mit launiger Anmut, strahlte die junge Ruhe eines Kindes aus, das unerfüllte Wünsche gewöhnt war.
    Cheira und Heira waren seine Mütter. Obwohl sie sich in einem Sarkophag aus apathischer Schwermut zu bewegen schienen, war ihre Liebe für das Kind überschwenglich. Die Kräfte hatten sie zum großen Teil verlassen, die Dorfjungen, die sie jetzt in Ruhe ließen, hatten keine Ahnung, daß ihre verkrümmten Finger kaum noch zwicken konnten. Sie waren vertrocknet und knotig wie Reisigholz und würden vermutlich zerbrechen.
    Wie schon bei seiner Mutter war es eine intensive Liebe, die sich nur körperlich zum Ausdruck bringen ließ. Und wie zärtlich sie ihn zwickten und mürbe drückten! Die Milch, mit der er gestillt worden war, hatte gute Arbeit an seinem Skelett und seinen Muskeln getan. Zum Frühstück bekam er Honig, Datteln und Feigen und zum Abendbrot verschiedene Arten Fleisch und Gemüse und Kartoffeln.
    Alles, was geschah, ertrug er mit großer Gelassenheit, mit Weisheit, wie es schien, doch kann man Einfältigkeit und Weisheit bei einem Kind oft nur schwer unterscheiden. Jeden Nachmittag, wenn die anderen Kinder aus der Schule kamen, stürzten sie sich auf ihn und ließen Füße und Fäuste auf ihn niederprasseln. Wehrlos nahm er die Tracht Prügel entgegen, ohne sich bei seinen Müttern darüber zu beklagen, und winkte seinen Peinigern sogar noch nach, nachdem er sich aufgerappelt hatte und sie davongerannt waren, enttäuscht, weil er nicht weinte und nicht schrie. Die Aggressivität der Kinder war unerklärlich, für Baba Baluk war sie ein selbstverständlicher Teil seiner Kindheit, die sich an der Schwelle zur Jugend bewegte. Nur Senunu hielt sich abseits, er hatte himmlische Weiten zu erkunden.
    Was das Kapitel Dorfjungen und Schule betrifft, so vergaßen diese alles, was sie morgens im Unterricht lernten, mittags während ihres langen Nachhausewegs schon wieder. Am nächsten Morgen auf dem Weg zur Schule erinnerten sie sich dann vage an den Unterrichtsstoff, an Schatten von Lehrerworten, an Geisterfragmente aus Büchern, die in den Maschen ihres Gedächtnisses hängengeblieben waren.
    Leichter und rascher lernten sie dagegen Rauchen und Masturbieren.
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