Paris ist eine Messe wert
daß ich es bisher nicht gewagt hatte, Freund und Leser, war nicht sosehr Feigheit, sondern ich hatte das undeutliche Gefühl, daß Zweifel manchmal weniger schlimm sind als Gewißheit. Es kommt vor, daß wir aus einer unbestimmten animalischen Vorsicht nicht weiter forschen, damit das Unbehagen, in welchem wir uns befinden, nicht Verzweiflung werde. Denn das scheint mir die Lehre des Ödipus zu sein, der nach dem Mörder des Königs suchte, der ihm sowohl im Reich wie auch im Bett der Königin vorausgegangen war, und erfahren mußte, daß er selbst dieser Mörder war, und der Ermordete sein Vater, und die Königin seine Mutter. Weshalb er sich die Augen ausstach, doch wohl zur Sühne dafür, denke ich, daß er sich vermessen hatte, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Ich meine, Ödipus hätte sich seine armen Augen vielleicht bewahren können, hätte er sich mit der Blindheit seines Lebens weise beschieden, anstatt daß er unaufhaltsam drängte, mehr über sich zu erfahren, als sein Glück erforderte.
Nun, es gibt keine Binde vor den Augen, die sich nicht löste, wenn eine Freundeshand, womöglich unerwünscht, dran rührt. Sowie Fogacer mich gleichsam herausgefordert hatte, die Probe aufs Exempel zu machen, wußte ich, daß ich es tun würde, auch wenn ich noch acht Tage verstreichen ließ – acht qualvolle Tage –, ehe ich mich dazu entschloß. Denn ich sah klar voraus, welches Grauen es wäre, würde mein tastender Finger enthüllen, daß nicht Larissa gestorben war, sondern Angelina – und unter vielleicht verdächtigen Umständen –, und daß die Zwillingsschwester sich ihren Platz angemaßt und nicht nur die menschlichen Gesetze, sondern auch das Sakrament der Ehe gebrochen hatte.
Ha! dachte ich, während ich mich schlaflos auf meinem Lager wälzte, was tue ich nur, gütiger Gott, wenn ich auf den |134| zwiefachen Frevel stoßen sollte, daß die geliebte Gattin tot, womöglich ermordet ist und eine Verbrecherin sich für sie ausgibt? Schweige ich dann und schlucke wortlos die ungeheuerliche Täuschung? Oder decke ich sie auf, überantworte Larissa dem Scheiterhaufen und mein Haus der Entehrung? Zumal die Richter sicherlich finden würden, daß meine Anzeige spät käme und mich als Komplizen des inzestuösen Schwesterntausches verdächtigen könnten?
Mein Grübeln und Spekulieren hätte wahrscheinlich noch länger gedauert, wenn Angelina an einem Abend – es war Montag, der 30. August, wie ich genau weiß – mich nicht um ein wenig Opium gebeten hätte, weil sie zu erregt und fiebrig war, um schlafen zu können. Das Mittel hatte die erwartete Wirkung, und als ich sie im Kerzenschein mit so gelösten Zügen liegen sah wie seit meiner Heimkehr nicht, traf mich wie ein Blitz der Gedanke, daß jetzt der Moment war oder nie, den Finger auf ihren Schönheitsfleck zu legen und die Prüfung ganz ohne ihr Wissen vorzunehmen, ganz ohne sie hierdurch wieder in jenen unsinnigen, konvulsivischen Zustand zu versetzen, in den sie jetzt immer geriet, wenn sie sich ungeliebt und zurückgestoßen wähnte. Und während ich noch zauderte und sie so still und friedlich sah, so lieblich im wirren Kranz der blonden Haare, so schön noch in ihrem Herbst, die Schultern, der Busen so füllig, fühlte ich etwas wie ein melancholisches Aufleben meiner Liebe, die durch ihre Narreteien seit meiner Ankunft nahezu erstorben war. Als ich jedoch bedachte, daß diese meine Liebe schändlich verraten sein könnte, wäre diese Frau nicht Angelina, übermannte mich der Zorn, verscheuchte meine feige Rührung, und ich streckte sacht den rechten Zeigefinger vor. Ich fuhr damit nicht einmal, nein drei- oder viermal über ihre Mouche, und fand zu meiner unaussprechlichen Erleichterung keine Spur, nicht einmal den zartesten Ansatz einer Wölbung.
Mir war, als wiche mir ein gewaltiger Stein von der Brust und als könnte ich zum erstenmal, seit der Zweifel sich dort eingenistet hatte, wieder frei atmen. Es war also wirklich Angelina, die ich da im flackernden, warmen Kerzenlicht schlafen sah, so friedvoll und sanft, die Lider über den schwarzen Augen geschlossen und mit einer so unschuldigen Miene wie damals im Pfefferturm zu Barbentane, als sie mir im Glanz und in der |135| Keuschheit ihrer Jugend ihre Treue versprach. Mir klopfte das Herz wie toll, und augenblicks von Mißtrauen zu Vertrauen wechselnd, gelobte ich mir, ihre gegenwärtigen Ausgefallenheiten zu vergessen, und glaubte, in diesem Vergessen die Stärke und das Glück meiner
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