Partitur des Todes
getroffen. Er ist offensichtlich verblutet… Nein, ich ergänze: Es gibt einen zweiten Einschuss,Jackett und Hemd sind unterhalb der linken Brusthälfte versengt, ein gezielter Schuss in die Herzgegend.»
Kurz war Marthaler versucht, die Tür zum vorderen Teil des Bootes zu öffnen und dort seine Inspektion fortzusetzen.Aber er wolltedie Geduld Walter Schillings und seiner Kollegen nicht weiter strapazieren.
«Das ist fürs Erste alles», sagteer ins Mikrophon. «FünfTote, jedes Opfer gezielterschossen.Alle bislang namenlos. Ob es eine Beziehung zwischen ihnen gab, ist unklar. Täter unbekannt. Tatwaffe bisher unbekannt. Motiv unbekannt. Raubmord unwahrscheinlich. Das Ganze ist…»
Mitten im Satz brach er ab. Er schaltete das Diktaphon aus. Es war zu früh, um irgendeinen Schluss zu ziehen aus dem, was er bisher gesehen hatte.
«Das Ganze ist ein riesiger Haufen Mist», sagte er. Walter Schilling stand an der Kaimauer und schaute ihn an. «Hast du hier schon mal gegessen?», fragte er.
Marthaler schüttelte den Kopf.
«Der beste Döner zwischen Hanau und den Rocky Mountains. Mit einer Joghurt-Chili-Soße, die du nie wieder vergessen wirst. Was ist mit Erkan?»
Marthaler schaute seinen Kollegen fragend an. Schilling zeigte auf das Schild: «Sultans Imbiss. Inhaber: Erkan Önal» stand dort.
«Ist er… Ich meine… ist er unter den Opfern?»
«Wenn du mir sagst, wie er aussieht…»
«Ende zwanzig. Dunkle, krause Haare. Klein, schlank. Zarter Typ.»
«Nein», sagte Marthaler. «Dann war er nicht dabei. Jedenfalls nicht unter denen, die ich gesehen habe.»
«Du meinst, es gibt noch mehr Tote?»
«Ich meine gar nichts», erwiderte Marthaler. «Ich frage mich nur gerade, wo dein Erkan sich aufhält, wenn er nicht auf seinem Boot ist.»
Walter Schilling zuckte mit den Schultern. «Ich werde mich hüten, dir deine Arbeit abzunehmen», sagte er. «Es reicht ja wohl, dass du den Kollegen ins Handwerk pfuschst.»
«Walter, bitte! Ich wollte mir nur so rasch wie möglich ein Bild machen.»
«Und?»
«Ein Bild habe ich, aber keine Erklärung. Erinnerst du dich an den sechsfachen Mord im Kettenhofweg?»
«Das war dieses Edelbordell», sagte Schilling, «stimmts?Es warAnfang der Neunziger, aber ich war nicht dabei. Ich hatte Urlaub. Vier tote Prostituierte und das Ehepaar, das den Club betrieben hat.»
«Ja. Damals waren es sechs Opfer. Erdrosselt mit einem Kabel. Es war einer der größten Mordfälle, die wir nach dem Krieg hatten.»
«Der Täter hieß Eugen Berwald», sagte Sven Liebmann, der jetzt zu den beiden Kollegen hinzugetreten war, «ein Russlanddeutscher. Er hat es auf die Mass Murderers Hit List geschafft.Allerdings ist er damit nur im Mittelfeld gelandet.»
«So etwas gibt es?», fragte Schilling. «Eine Hitparade der erfolgreichsten Mörder?»
«Ja, in den USA gibt es so etwas», erwiderte Marthaler. «Und auf diese Liste könnte es unser Täter hier ebenfalls schaffen.Allerdings wurde Berwald bereits kurz nach der Tat festgenommen. Wenn uns das in diesem Fall ebenfalls gelingen soll, solltest du dichjetzt langsam an dieArbeit machen.»
Marthaler sah, wie der Chef der Spurensicherung nach Luft schnappte. Walter Schilling wollte gerade seiner Empörung freien Lauf lassen, aber Marthaler kam ihm zuvor. «Es sollte ein Scherz sein, Walter. Sonst nichts. Ich weiß, dass ich es war, der dich aufgehalten hat.Aber wir müssen so rasch wie möglich herausbekommen, wer die Toten sind. Tu mir einen Gefallen und schau als Erstes nach, ob sieAusweispapiere dabeihaben. Und gib mir sofort Bescheid, wenn du etwas gefunden hast.»
Schilling verdrehte die Augen, dann wandte er sich ab. Marthaler setzte noch einmal nach: «Ach Walter, das mit der Dienstaufsichtsbeschwerde…»
«…war kein Scherz», sagte Schilling, ohne sich noch einmal zu seinem Kollegen umzudrehen. «Das war überhaupt kein Scherz.»
Marthaler ging ein paar Schritte beiseite, um den Weg für die Leute der Spurensicherung frei zu machen. Dann legte er den Kopfin den Nacken und schaute hoch zur Brücke. Seine Befürchtung hatte sich bestätigt. Es war nicht einmal eine halbe Stunde vergangen, seit er am Tatort angekommen war, aber bereits jetzt herrschte einGedränge wie während desMainuferfestes. Schulteran Schulter standen die Neugierigen am Geländer. Immer wieder sah man das Blitzen von Fotoapparaten und Handykameras.Er hörte den Lärm der Motoren und das wütende Hupen derAutofahrer, dieim Stau standen und nicht wussten,
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