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Partitur des Todes

Partitur des Todes

Titel: Partitur des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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stumm ein zweisilbiges Wort. Marthaler war sich sicher, dass es das Wort «Arschloch» war. Ohne einen Laut von sich zu geben, hatte der Mann ihn Arschloch genannt. Und jetzt grinste er.
    Für einen Augenblick war Marthaler versucht auszusteigen und den Mann zur Rede zu stellen; stattdessen ließ er die Scheibe hochfahren und fuhr weiter.
    Als er den Wagen geparkt hatte und an der Haustür angekommen war, hatte er den Bärtigen bereits vergessen. Er öffnete den Briefkasten, sah die Post durch und stopfte sie in die Tasche seines Jacketts. Dann ging er in den Keller, um sich auf die Suche nachden Kartons mit den alten Fotos zu machen. Schon am Eingang fluchte er.
    Hundert Mal hatte er sich vorgenommen hier aufzuräumen; hundert Mal hatte er es wieder verschoben. Inzwischen war der Raum so vollgestopft, dass man ihn kaum mehr betreten konnte. Mühsam kämpfte Marthaler sich durch die Berge von Kisten und alten Möbeln, von ausgemusterten Küchengeräten und Plastiksäcken, die sich hier im Laufe der Jahre angesammelt hatten. Immer gab es etwas, das zu schade war, um es wegzuwerfen, das man nur vorübergehend im Keller abstellen wollte, das dann aber doch in Vergessenheit geriet.
    Endlich hatte er die rückwärtige Wand erreicht und stand vor dem Regal, auf dessen mittleren Brettern verstaubte Gläser mit eingemachtem Obst lagerten. Weiter oben hatte er alte Kissen, Schlafsäcke und Luftmatratzen verstaut. Die Kartons, nach denen er suchte, mussten sich irgendwo in einer der unteren Etagen befinden. Dort hatte er in Bananenkisten seine alten Schulhefte, seine Briefmarkenalben und Studienunterlagen gesammelt. Und eben auch die zahllosen Fotos, die er, statt sie in Alben einzukleben, in Schuhschachteln geworfen und kaummehr angeschaut hatte.
    Schließlich fand er, was er suchte. Es waren fünf mit inzwischen spröde gewordenen Einmachgummis verschlossene Kartons, die er übereinanderstapelte und nun zum Kellerausgang balancierte.
    Als er die Wohnung betrat, spürte er, wie müde er war. Erstellte die Kartons auf den Tisch im Wohnzimmer; dann ging er zurückin den Flur und kontrollierte den Anrufbeantworter. Er hatte gehofft, dass Tereza sich gemeldet habe; schließlich sie unbedingt mit ihm reden wollen.Aber es gab keine neuen Nachrichten.
    Er legte dieAufnahme mit Chatschaturjans Violinkonzert in den C und drehte den Verstärker auf.Anschließend ging er in die Küche und kochte sich einen doppelten Espresso, den er noch im Stehen trank.Am Waschbecken ließ er Wasser in seine Hände laufen und benetzte sein Gesicht.
    Noch immer erinnerte er sich nicht an den Namen des Toten.Aber als Walter Schilling ihn «der Dicke» genannt hatte, war ihm etwas eingefallen.Am Ende seiner Schulzeit hatte es einen Mitschüler gegeben, der diesen Spitznamen trug. Und nun war Marthaler fast sicher, dass es sich bei ihm um den Toten handelte. Sie waren nicht in derselben Klasse gewesen, aber im selben Jahrgang. Der Dicke war ein Einzelgänger gewesen mit vorstehenden Zähnen und einem Gesicht voller Aknenarben. Marthaler erinnerte sich, dass er ihn oft mit einem schwarzen Aktenkoffer auf dem Schulhof gesehen hatte. Und dass der Dicke ständig Cola getrunken hatte. Einmal hatten sie im Bus nebeneinandergesessen und nicht gewusst, was sie reden sollten. Marthaler war froh gewesen, als er endlich aussteigen konnte.
    Jetzt fiel ihm ein, dass er dem Dicken Jahre später noch einmal begegnet war, an einerAutobahnraststätte auf dem Weg nach Frankreich. Marthaler hatte auf dem Parkplatz gestanden, als er bemerkte, dass ihn ein Mann anschaute. «Du erkennst mich nicht mehr, stimmt’s», sagte der Mann. «Doch, aber…», antwortete Marthaler. «Gib’s doch zu», erwiderte der andere, «du erkennst mich nicht. Ich bin der, den ihr nur den Dicken genannt habt. Und ich wette, du weißt auch jetzt noch nicht, wie ich heiße. Wahrscheinlich hast du es nie gewusst.» «Hilf mir!», sagte Marthaler. Der andere schüttelte den Kopf. «Nein», sagte er, «ich helfe dir nicht.Aber ich habe dich einmal sehr bewundert. Eine Zeit lang wollte ich sogar, dass wir Freunde werden. Ich glaube, du hast es nicht einmal.» Dann lächelte er, drehte sich um und ging zu seinem Wagen.
    Sie waren sich kein weiteres Mal begegnet. Und irgendwann hatte Marthaler auch diesen Vorfall wieder vergessen und danach zwei Jahrzehnte lang nicht mehr an den Dicken gedacht. Bis heute.
    Er öffnete den ersten Schuhkarton und breitete die Fotos vor sich auf dem Tisch aus. Er hatte sie

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