Partitur des Todes
kam, reichte er ihr, ohne sie anzuschauen,seinen Getränkebon und nahm das schaumlose Bier entgegen, das man bereits für ihn gezapft hatte.
Er hatte die Aktentasche auf die Bank gestellt und hielt die Rose in der Hand. Während Barbara Pavelic ihren Auftritt zwar zu einer anderen Musik, aber mit derselben routinierten Teilnahmslosigkeit absolvierte wie beim ersten Mal, ließ er keinAuge von ihr. Wieder streifte sie ihre Bikinihose ab. Wieder machte sie die gleichen lasziven Bewegungen.
Marthaler warf einen Blick in die Runde. Der Mann am Nebentisch war aufgewacht. Er hatte seine Stellung geändert. Er saß jetzt aufrecht und hatte seinen Rücken an die Wand gelehnt. Die Bühnenshow schien ihn noch immer nicht zu interessieren. Er fasste in die Innentasche seiner Jacke, vergewisserte sich kurz, dass die Kellnerin ihn nicht beobachtete,zog einen Flachmann hervor, nahm einen tiefen Schluck und ließ die Flasche wieder verschwinden. Dann klappten ihm erneut dieAugen zu, und sein Kinn sank auf die Brust.
Die beiden Banker hatten ihre Unterlagen weggepackt. Eine der Tänzerinnen hatte sich zu ihnen an den Tisch gesetzt. Sie lachten und prosteten einander zu.
Die jungenAsiaten waren verschwunden.An ihrer Stellesaß jetzt ein Paar, das sich leise zu streiten schien. Marthaler sah, wie der Mann immer wieder den Kopf schüttelte, während die Frau gestikulierte und auf ihn einredete.
Wieder warf Barbara Pavelic ihr Oberteil ab, ließ sich auf den Boden gleiten und wälzte sich kurz darauf vom Rücken auf den Bauch.Dann machte sie einen Fehler. Sie schaute kurz in Richtung des Mannes, der sich Werner nannte,dann sah sie Marthaler an und zwinkerte ihm zu.
Der Mann im grauenAnzug hatte ihren Blickwechsel bemerkt.
Marthaler beeilte sich, den Tisch des anderen zu erreichen, kam aber zu spät. Der Mann hatte seineAktentasche gepackt und waraufgesprungen. Im nächsten Moment war er verschwunden. Im Vorbeigehen schnappte sich Marthaler die Rose, um deren oberen Teil ein Bändchen gewickelt war, an dem eine Visitenkarte hing.Als er den Ausgang erreicht hatteund auf dem Bürgersteig stand, schaute er rasch in beide Richtungen. Er sah gerade noch, wie der Mann die Fahrbahn überquerte und nach links in die Niddastraße bog.
Marthaler spurtete los. Nach kurzer Zeit war er bereits außerAtem. Rundum auf den Bürgersteigen wurde gejohlt. Tatsächlich musste es seltsam aussehen, wenn ein Mann durchs Bahnhofsviertel rannte, der von einem anderen Mann verfolgt wurde, welcher eine langstielige, rote Rosein der Hand hielt.
Als Marthaler die Kreuzung zurKarlstraße erreicht hatte,lief er direkt in eine Gruppe von Touristen, die gerade einem Reisebus entstiegen waren und sofort angefangen hatten, sich gegenseitig zu fotografieren.
Laut fluchend bahnte er sich seinen Weg.
Ohne auf den Verkehr zu achten, lief der Mann im grauenAnzug auf die Düsseldorfer Straße. Gerade hatte dieAmpel auf Grün geschaltet, und der Verkehr begann wieder zu rollen. Im letzten Moment erreichte er die Straßenbahnschienen. Eine Sekunde später wäre er von den anfahrenden Autos überrollt worden.
Marthaler musste warten, bis er eine Lücke fand. Dann schlängelte er sich durch die hupenden Wagen. Er sprang auf die Gleise und hörte kurz darauf die kreischenden Bremsen der Straßenbahn. Einen Meter vor ihm war sie zum Stehen gekommen. Er sah, wie der Fahrer hinter den getönten Scheiben schimpfte. Marthaler erinnerte sich, dass ihm etwas Ähnliches vor einigen Jahren schon einmal passiert war. Damals hatte ihn ein großer, dicker Junge am Jackett gezerrt und so davor bewahrt, überfahren zu werden.
Er lief rechts am Hauptbahnhof vorbei in die Poststraße. Der Mann war nirgends mehr zu sehen. Er konnte in ein Taxi gestiegen sein, er konnte sich in einem Hauseingang versteckt haben, er konnte auch in dem unterirdischen Parkhaus Zuflucht gesucht haben, an dessen Ausfahrt Marthaler stand. Oder er hatte den Nordeingang zum Bahnhof genommen und war längst im Gewimmel der Reisenden untergetaucht. Mehrmals drehte Marthaler sich um die eigeneAchse.Aber er hatte keine Chance. Das Viertel war zu unübersichtlich. Es gab zu viele Möglichkeiten. Resigniert ließ er die Arme sinken.
Dann fiel ihm die Rose ein.
Er hoffte, dass der Mann auf dem Visitenkärtchen seinenwirklichen Namen und seine echteAdresse angegeben hatte. Marthaler drehte die Blume in alle Richtungen, ohne zu finden, was er suchte. Das Bändchen hatte sich während der Verfolgungsjagd gelöst. Die
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