Partner, Paare, Paarungen - Erzählungen
möglicherweise noch heute ist, der für das Non-plusultra gediegener Zirkustradition galt, vor der Saisonpremiere stand. Der Pressechef des Zirkus, ein alter Bekannter, fand heraus, in welchem Hotel der Entertainer wohnte, und lud ihn zur Premiere ein. Der konnte die Einladung aber nicht annehmen, da er an diesem Abend selbst aufzutreten hatte. Er bedauerte derartig, nach längerer Zeit nicht wieder einmal ein Programm dieses Zirkusunternehmens sehen zu können, dass der Pressechef ihn zur Generalprobe in den Festbau einlud. Und das war für den zirkusbegeisterten Entertainer völlig neu: die Generalprobe eines Zirkus vor Beginn der großen Tournee.
Eine makellos ablaufende Zirkusvorstellung ohne Publikum hat etwas Magisches. Die Artisten spielen, als ob Publikum da wäre, machen ihre Bewegungen, ihr Kompliment, ihre Signale zur Auslösung eines Applauses in den leeren Raum. Alle Gesetze des Schaugeschäftes sind für den Betrachter studier- und bewunderbar.
Die Nummern waren erwartungsgemäß überwiegend ausgezeichnet. Die Clowns fand der Entertainer, wie fast immer, schlecht, gab sich aber zu bedenken, dass eine Clownnummer ohne Reaktionen möglicherweise nicht wirklich fair zu beurteilen ist.
In der Pause wurden die Gitter für die Raubtiernummer aufgebaut. Das Zirkusorchester spielte dschungelartige Klänge. Die Raubtiere kamen. Eine imponierend große, gemischte Gruppe. Der Dompteur, ein stämmiger, junger Spross der Zirkusdynastie, begann mit der Vorführung der längst bekannten Positionswechsel, Sprünge und Formationen. Was die Nummer von ähnlichen unterschied, waren das Tempo und die Eleganz des kaum agierenden Dompteurs. Alles klappte bis zu dem Moment, als ein Löwe eine Handbewegung des Dompteurs ignorierte und sich nicht – wie alle anderen Tiere – auf die Hinterbeine stellen wollte. Der Dompteur flüsterte ein leises »Sultan!«. Ergebnislos. Sofort war allen Menschen im Festbau klar, da klappt was nicht. Die Tiere verharrten gelangweilt. Die Menschen aber begannen gespannt und immer gespannter zuzusehen. Durchaus denkbar, dass da schon ein kundiger Wärter eine Schusswaffe bereitstellte.
Der Dompteur stand vor dem Löwen. Er suchte den Augenkontakt. Er ging näher hin. Dann wieder weg. Nichts. Der Löwe Sultan wurde nicht böse, nicht aggressiv. Er wollte nur nicht.
Man spricht in solchen Fällen von »Sekunden, die zu Minuten werden«. Hier wurden Minuten gleichsam zu einer Stunde. Niemand in der Halle gab auch nur einen Laut von sich. Der Dompteur und sein Löwe Sultan trugen ein Duell aus. Ein Duell, bei dem nach allen Erfahrungen der Branche der Dompteur Gesundheit oder Leben riskierte, Kopf und Kragen. Der Entertainer schwitzte synchron mit dem Dompteur. Nach Minuten, also einer Ewigkeit, tat der Löwe, was er laut Dressur zu tun hatte. Die Nummer lief zu Ende. Die Generalprobe ging weiter.
Der Entertainer war zu aufgewühlt, um dem zweiten Teil noch sehr aufmerksam folgen zu können.
Nach der im Allgemeinen als tadellos empfundenen Generalprobe versammelten sich alle, auf Einladung des Pressechefs auch der einsame Probengast, in der Zirkuskantine, einem großzügigen Lokal von der Qualität eines gehobenen »Italieners«. Man aß und trank.
Nach einiger Zeit kam auch der sichtlich gebrochene Dompteur. Den Entertainer hielt es nicht mehr auf seinem Sitz. Er ging zu dem Mann hin, machte sich bekannt, stellte mit Vergnügen fest, dass er gekannt war, und fragte:
»Erklären Sie mir bitte eines: Warum haben Sie nicht aufgegeben, die eine Phase hätten Sie doch überspringen können? Das hätte doch keiner gemerkt.«
Die Antwort kam stockend, aus dem Mund eines schwer Verwundeten: »Wenn ich einmal nachgebe, macht der nie mehr, was ich will. Dann ist die ganze Nummer im Arsch. Ein Jahr Arbeit.«
Und nach einer Weile: »Das war das letzte Mal. Nie mehr arbeite ich mit einem Löwen. Wenn der in der Brunft ist, geht nichts mehr. Da kannst du dich aufhängen. Nie mehr mit einem Löwen. Nie mehr.«
Der Entertainer wünschte dennoch alles Gute für die Premiere und die Tournee, ließ den Zerstörten wieder allein und trank mit dem Pressechef noch ein paar Glas Rotwein. Dabei besprachen die beiden Männer nur diesen Vorfall.
Ins Hotel gekommen nahm der Entertainer noch einen aus der Minibar. Dann versuchte er nachzudenken. Über Dressur. Über Abhängigkeit. Über Freiheit. Über Sabotage. Über Gegenangriff. Er versuchte Parallelen zwischen der letzten Situation mit seiner Partnerin und
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