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Passwort: Henrietta

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Titel: Passwort: Henrietta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava McCarthy
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als hätte sich Ralphy-Boy auf die Toilette verzogen.
    »Geht’s jetzt besser?«, fragte Leon.
    »Was zum Teufel soll das?«
    »Ich ruf nur ein paar alte Kumpel an. Scheint mir der richtige Tag zu sein für Anrufe aus der Vergangenheit.«
    »Was soll das? Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht mehr anrufen.«
    »Ja, ja, ich weiß. Hör zu, Ralphy-Boy, bist du irgendwo in der Nähe von deinem Büro?«
    »Ich bin mitten in einer Vorstandsbesprechung und kann nicht …«
    »Gut. Ich schick dir eine E-Mail an deine Privatadresse. Geh und lies sie.«
    »Was? Bist du völlig übergeschnappt?«
    »Mach es. In fünf Minuten ruf ich wieder an.«
    Leon legte auf und wandte sich seinem PC zu. Er rief die E-Mail wieder auf und leitete sie an Ralphs Alias-Adresse weiter.
    Er drehte seinen Sessel herum und starrte aus dem Fenster auf die Flaschencontainer und Mülltonnen, die den kleinen Parkplatz hinter seinem Büro säumten. Ihm direkt gegenüber lag die rußverschmierte Rückwand eines chinesischen Take-aways, The Golden Tigress. Klasse Name für eine heruntergekommene Bazillenschleuder.
    Ein junger Chinese in weißem Overall schlurfte aus der Hintertür und warf einen Sack mit weiß Gott welchem Mist in die Mülltonne unter Leons Fenster. Beim durchdringenden Knoblauchgestank verzog er die Nase, sein Magen verkrampfte sich. Die meisten Ladenbesitzer in der Gegend sonderten den gleichen ranzigen Geruch ab und verpesteten damit sein winziges Büro, wenn sie mit ihren Abrechnungen zu ihm kamen. Sein Magengeschwür meldete sich.
    »Leon-the-Ritch«, so hatten ihn die Leute mal genannt. Er hatte sechzehn Stunden am Tag rangeklotzt und alle großen Deals durchgezogen. Damals war er einer der großen Macher gewesen, hatte Millionen auf der Bank und eine prächtige Frau an seiner Seite. Mittlerweile war seine zwanzigjährige Ehe samt seinem Ruf und seinem Bankkonto den Bach runtergegangen.
    Er schloss die Augen. Wenn er an die Ehe dachte, musste er auch an seinen Sohn denken, und das war schlimmer als das Magengeschwür. Er konzentrierte sich auf die sengenden Schmerzen im Bauch und versuchte, das Bild von Richard auszublenden, den er am Morgen am Bahnhof gesehen hatte. Das erste Mal seit fast einem Jahr.
    Er hatte die ganze Nacht beim Poker verbracht und war, luftdicht verpackt mit den Pendlern, im Zug in sein Büro gefahren. Ihre angewiderten Blicke bestätigten, was er bereits wusste: dass er rotgeränderte Augen hatte, aus dem Mund stank und die Bakterien unter seinen Achseln sich fröhlich vermehrten.
    Am Bahnsteig in Blackrock war sein Waggon neben einer Gruppe von Schuljungen zum Stehen gekommen. Beiläufig hatte er sie durch das Fenster betrachtet. Plötzlich war ihm die Luft weggeblieben. Dunkle Haare, runde Augen, Sommersprossen wie Schlammspritzer. Richard. Mitreisende schoben sich vor Leon, aber er, bemüht, einen weiteren Blick auf seinen Sohn werfen zu können, stieß sie zur Seite. Richard, einen Kopf größer als die anderen Jungen, war leicht auszumachen. Er war gewachsen. Leon schwoll die Brust vor Stolz. Der Junge würde groß wie seine Mutter werden, nicht so untersetzt wie er selbst.
    Leon hatte sich näher an die Tür gedrängt. Der erste von Richards Freunden kam in den Waggon, und aus der Nähe erkannte er auf dessen Pullover das Wappen des Blackrock Colleges. Er runzelte die Stirn. Maura hatte nichts von einem Schulwechsel gesagt. Aber sie hatten ja auch lange nicht mehr miteinander geredet. Er fragte sich, wer die Gebühren bezahlte.
    Richard stand an der Tür. Leon hob halb den Arm, um auf sich aufmerksam zu machen. Er hörte den gebildeten Akzent von Richards Freunden. Gleichzeitig wurde ihm der säuerliche Geruch seiner eigenen Kleidung bewusst, sein verdreckter Anorak, sein unrasiertes Gesicht. Seine Hand geriet ins Stocken.
    »Richard!«
    Der Junge drehte den Kopf und sah zum Bahnsteig. Leon ließ rasch den Arm sinken und starrte aus dem Fenster. Ein blonder Mann in den Vierzigern joggte zum Zug. Er trug einen dunklen Wollmantel, in der Hand eine rote Sporttasche. Er hielt sie Richard hin und fuhr dem Jungen durchs Haar. Leon sah das breite Grinsen, das sich über das Gesicht seines Sohnes zog, in seinem Magen spürte er ein scharfes Stechen, als hätte er Glasscherben verschluckt. Langsam drehte er sich um und drängte sich durch die Menge, bis er am anderen Ende des Waggons war. Und dort blieb er, hielt sich verborgen, bis er sichergehen konnte, dass sein Sohn ausgestiegen war.
    Flaschengeklirr

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