Passwort: Henrietta
Zeiten gegeben, an denen sie sich nach einem exotischen spanischen Namen wie dem ihrer Schwester gesehnt hatte. Amaranta war groß und hatte aschblondes Haar. Als sie geboren wurde, war Harrys Mutter noch ganz vom halb irischen, halb spanischen Charme ihres Gatten eingenommen. Bei Harrys Geburt hatten sie aufgrund der finanziellen Desaster ihres Vaters das Herrenhaus gegen ein beengtes Reihenhaus eintauschen müssen, und mit dem Sinn ihrer Mutter für ausgefallene Namen war es vorbei. Dabei war Harry diejenige, die die dunklen spanischen Augen ihres Vaters und seine schwarzen Locken geerbt hatte; ihre Mutter allerdings hatte sich davon nicht mehr beeindrucken lassen. Sie wies alles zurück, was auch nur entfernt spanische Anklänge hatte, und taufte ihre Tochter nach der eigenen Mutter, einer spröden Frau aus dem Norden Englands, auf den Namen Henrietta.
»Hat schon mal jemand von einem Einbrecher gehört, der Henrietta heißt?«, hatte ihre Vater nach dem Vorfall mit dem Fenster erklärt und seitdem darauf bestanden, sie Harry zu nennen. Mittlerweile hörte sie auf nichts anderes mehr.
Harry überprüfte das Crack-Programm. Es war fast fertig. Sie überflog die Liste mit den bislang geknackten Passwörtern. Sie fand Nadia. Benutzername »nadiamc«, Passwort »Diamanten«. Und Sandra Nagle: »sandran«, Passwort »Stärke«. Sie schüttelte den Kopf. Nicht gut. Sie brauchte das Konto von jemandem, der etwas zu sagen, der privilegierten Zugang hatte.
Voilà, da hatte sie ihn: ganz unten auf der Liste. Das Passwort des Netzwerkadministrators: asteroid27. Sie wackelte mit den Zehen in den Schuhen. Jetzt war sie so etwas wie ein Wachmann des Sicherheitsdienstes, der den Generalschlüssel für das gesamte Gebäude hatte: Sie konnte überallhin. Das Netzwerk gehörte ihr.
Sie meldete sich mit ihrem neuen privilegierten Status an und deaktivierte sofort das Audit-Programm, das alle Netzwerkaktivitäten aufzeichnete. Nichts von ihren Aktivitäten würde in den Log-Dateien auftauchen. Sie war unsichtbar.
Harry durchstreifte die Server und stürzte sich auf jede Datei, die vielversprechend aussah. Bei einigen der Daten, zu denen sie Zugang hatte, gingen ihr die Augen über: Einstufung der Kreditfähigkeit der Kunden, Einkünfte der Bank, Angestelltengehälter. Sie konnte alle E-Mails lesen, auch die des Vorstandsvorsitzenden.
Sie sprang zu einer anderen Datenbank und versuchte, die Zahlen vor ihr einzuordnen. Ihre Finger erstarrten auf der Maus, als sie einige der vertraulichsten Kundeninformationen der Bank vor sich hatte: Kontonummern, PIN -Codes, Einzelheiten zu Kreditkarten, Benutzernamen und Passwörter. Der Stoff, aus dem die Träume der Hacker sind. Und das meiste davon war noch nicht einmal verschlüsselt.
Harry scrollte durch die Daten. Es wäre so einfach, Geld von diesen Konten abzubuchen. Keiner würde überhaupt mitbekommen, dass es geschah. Sie war ein Geist im System und hinterließ keine Spuren.
»Sie kommt heute früher.«
Harry sah zu Nadia, die mit einem Nicken nach vorn wies. Sandra Nagle stand an den Doppeltüren, den Blick auf ein Klemmbrett gerichtet.
Scheiße. Zeit, sich vom Acker zu machen.
Ihre Finger tanzten über die Tastatur. Sie kopierte die Liste mit den geknackten Passwörtern auf ihre CD und warf gleich noch einige der Kontodaten und Sicherheits- PINS hinterher.
Der Kopiervorgang dauerte. Sie sah auf. Sandra Nagle arbeitete sich durch den Raum, alle paar Schritte blieb sie stehen und sah den Support-Mitarbeiterinnen über die Schulter.
Harry wusste, sie sollte Schluss machen, wusste, dass sie ein Risiko einging, aber eine Sache blieb noch. Sie fummelte mit der Maus herum, tarnte eine ihrer eigenen Dateien und legte sie in einer Ecke des Netzwerks ab. Sie hinterließ immer gern eine Art von Visitenkarte, mit der sie jederzeit erneuten Zugriff hatte.
Die Frau schlenderte in ihre Richtung und machte sich auf ihrem Klemmbrett Notizen. Dann blieb sie stehen und befragte, nur wenige Schritte von Harry entfernt, eine junge Frau.
Harry säuberte die Log-Datei der Systemereignisse, um jede Möglichkeit ausschließen, aufgespürt zu werden. Sie setzte die Aufzeichnung der Netzwerkaktivitäten wieder in Gang und sah auf.
Sandra Nagle starrte sie unumwunden an.
Schweiß sammelte sich in Harrys Achseln. Sie hörte das Schrappen von Nylon auf Nylon, als die Frau auf sie zumarschiert kam. Sie loggte sich aus dem Netzwerk aus und rief das Kundensupport-Programm wieder auf, gerade als Sandra
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