Verbrechen ohne Opfer, aber dem ist nicht so.« Er deutete auf den Bildschirm. »Wer auf diese Weise die Kurse manipuliert, zerstört das Vertrauen in die Märkte. Mit der Fairness ist es dann vorbei.« Wie betäubt sah er sie an. »Das waren drei hochrangige, hochangesehene Investmentbanker. Was zum Teufel haben die sich bloß gedacht?«
Drei hochrangige Investmentbanker. Dazu der Prophet, machte vier. Harrys Blick schnellte zum Bildschirm. Sie war so darauf versessen gewesen, den Propheten aufzuspüren, dass sie das angebliche fünfte Ring-Mitglied glatt vergessen hatte; jenen, dessen Identität Leon geschützt hatte, falls er später einen Gefallen einfordern musste. Spielte aber auch keine so große Rolle. In Leons Mails wurde er ebenfalls nicht erwähnt.
»Fahren Sie fort«, sagte Jude. »Jetzt können wir uns die letzte auch noch ansehen.«
Harry klickte darauf und öffnete Leons letzte Mail. Sie war auf den 8. August 2000 datiert und, wie die meisten anderen, an ihren Vater sowie Jonathan Spencer adressiert.
Warum geht ihr Jungs eigentlich nie ans Telefon? Der Dynamix-Zephyr-Deal ist ABGEBLASEN ! Stoßt Zephyr SO SCHNELL WIE MÖGLICH ab, oder wir sitzen alle in der Scheiße!
Leon
Angehängt war eine andere E-Mail, die an Leon geschickt worden war.
Leon,
Dynamix hat Schwierigkeiten, die Gelder für die Zephyr-Übernahme aufzutreiben. Verhandlungen sind ausgesetzt. Pressemitteilung wird gerade vorbereitet. Schlage vor, ihr stellt eure Zephyr-Positionen umgehend glatt.
Der Prophet
Harrys Blick flog zur Adresse des Senders:
[email protected].
»Der Prophet?«, sagte Jude. »Wer zum Teufel ist das?«
Harry zögerte, doch dann erzählte sie ihm, was sie wusste, unter anderem die Gerüchte über einen fünften nicht-identifizierten Banker. Natürlich ging ihr durch den Kopf, dass ihm das alles nicht neu sein musste, schob den Gedanken jedoch vorerst zur Seite.
»Ist dieser Prophet der, der hinter Ihnen her ist?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Es könnte jeder von denen sein.«
Jude wies mit einem Nicken zum Bildschirm. »Die E-Mail-Adresse sieht ziemlich komisch aus.«
»Er hat sie über einen Remailer geschickt.« Bevor er sie wieder verständnislos anstarren konnte, fuhr sie fort: »Ein Remailer entfernt Namen und Adresse von der E-Mail, bevor er sie weiterleitet. Nichts deutet also mehr darauf hin, woher die Mail ursprünglich stammt.«
»Aber man kann sie doch bestimmt irgendwie zurückverfolgen?«
Harry schüttelte den Kopf. »Das ist schwierig. Remailer sind gewöhnlich zusammengeschaltet, die Mail springt vom einen zum nächsten, bevor sie den endgültigen Empfänger erreicht. Wobei die einzelnen Remailer in unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Gesetzen und Sicherheitsvorschriften operieren. So etwas nachzuverfolgen ist juristisch ein Alptraum.«
»Dann ist es also anonym?«
Sie sah ihn gequält an. »So anonym wie Ihre Schweizer Bankkonten. Bei den weniger sicheren Remail-Diensten gibt es immer irgendwo eine Datenbank, in der der richtige Name gespeichert ist. Man kann sich reinhacken oder einen Angestellten bestechen, damit er die Informationen rausrückt.« Sie zeigte auf den Bildschirm. »Den hier kenne ich. Er ist mittlerweile geschlossen, doch er war schwer zu knacken. Er operierte in etwa zwölf Ländern und verwandte hochentwickelte Verschlüsselungsverfahren. Es überrascht mich nicht, dass die Behörden sich schwertaten, den Propheten aufzuspüren.«
»Und was jetzt?«
Harry seufzte und sah auf die Uhr unten am Bildschirm. Es war fast elf. Sie rieb sich die trockenen Augen, ihr ganzer Körper tat ihr weh. Sie sehnte sich nach Schlaf und der Möglichkeit, dass sich ihr Unbewusstes eine Weile mit diesen Dingen beschäftigte. Aber sie war noch nicht fertig.
Sie tippte ein paar Befehle ein und durchsuchte erneut Felix’ Archiv, diesmal nach E-Mails von Jonathan Spencer. Es gab keine. Er hatte sich in der Tat vorsichtig verhalten. Dann erinnerte sie sich an ihre Suche nach der Datei mit den Systempasswörtern. Sie überprüfte das Ergebnis. Nichts.
Und dann stand noch etwas an. Sie spannte die Finger an und wusste, sie konnte es nicht mehr länger hinauszögern. Sie tippte auf die Tasten und startete die Suche nach den E-Mails ihres Vaters.
Es gab nur eine, datiert auf den 5. Oktober 2000.
Leon,
Sorohan hat einen Boden ausgebildet. Es ist an der Zeit einzusammeln, bevor Aventus an die Öffentlichkeit geht. Das ist die Chance, auf