Passwort: Henrietta
Schreibtisch lag.
Sie griff sich ihren Stift und den Block und kritzelte ihm eine Notiz.
Seien Sie nett.
Schließlich gehörte es zum Social Engineering, dass man sich bei seiner Zielperson einschmeichelte.
Jude sah sie an und nickte.
»Fünf Minuten Ihrer Zeit, Felix«, sagte er. »Nur ein kleines Problem, bei dem Sie mir helfen müssten.«
»Zu dieser Stunde? Seit wann arbeite ich am Wochenende für KWC ?«
»Ich weiß, es ist spät …«
»Spät? Es ist praktisch schon morgen.« Felix lachte. Es begann als ausgedehntes bronchiales Keuchen und endete mit einem rasselnden Husten, bei dem sich Harry die Frage stellte, ob er an Tuberkulose litt. Intuitiv wich sie vom Handy zurück.
Noch immer krächzend, fuhr Felix fort: »Hey, Judy, hab ich Ihnen schon gesagt, dass ich heute Geburtstag habe?«
Stirnrunzelnd sah Jude sie an. »Nein, ich glaube nicht.«
»Diese Ärsche im Büro. Allen hab ich gesagt, dass ich Geburtstag hab, aber keiner hat sich blicken lassen.«
Nach seinen verschliffenen Konsonanten und dem Lärm der Stimmen im Hintergrund zu schließen, musste das Pub, in dem sich Felix aufhielt, guten Umsatz machen.
»Also, worum geht’s?« Seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er sich schon darauf freute, Jude abblitzen zu lassen – egal, worum es ging.
»Wirklich eine ziemlich blöde Sache«, sagte Jude. »Ich bin im Büro und hab mein Netzwerk-Passwort vergessen. Als wäre bei mir oben alles ausgelöscht.«
»Warum belästigen Sie mich damit? Rufen Sie doch einen von den Sicherheits-Cracks an, einen von denen, die kaum ihren kurzen Hosen entwachsen sind.«
»Das hab ich versucht, glauben Sie mir. Aber es geht nur die Mailbox dran.«
»Na, ich würde ja wirklich gern helfen, wirklich, aber ich bin ja nur einer von den kleinen Typen in der Beschaffung.«
»Das können Sie anderen erzählen, Felix. Sie wissen mehr über das KWC -Netzwerk als alle in der IT -Sicherheit zusammen.«
Felix hielt inne. »Sie schmeicheln mir, Judy. Sie müssen ja ganz verzweifelt sein.«
»Kommen Sie, helfen Sie mir, ohne Passwort kann ich hier nichts machen.«
»Dann gehen Sie doch nach Hause. Und ich komm dann morgen früh zu Ihnen.«
»Das hilft mir nicht weiter. Ich habe heute Nacht einen Abgabetermin, und ich muss an ein Dokument im Netzwerk ran. Können Sie nicht mein Passwort zurücksetzen, oder so was?«
»Nein, ohne Laptop geht das nicht. Und glauben Sie mir, ich werde diese Bar so schnell nicht verlassen.«
Fragend sah Jude zu Harry. Sie nickte und rückte näher ans Telefon. »Und wie wär’s, wenn Sie mir eine andere Login- ID geben? Eine, mit der man Zugang zu vertraulichen Dateien im Netzwerk hat?«
Schallendes Gelächter dröhnte aus dem Lautsprecher, gefolgt von jubelnden Männerstimmen. Harry zuckte zusammen und strengte sich an, Felix’ Stimme aus dem Radau herauszuhören.
Jude beugte sich über das Handy. »Felix? Sind Sie noch da?«
»Klar bin ich noch dran, Judy. Würde Sie doch nie hängenlassen. Hey, raten Sie mal, wie alt ich heute geworden bin. Kommen Sie, schätzen Sie mal.«
Jude seufzte und sah zur Decke. Harry fuchtelte mit den Armen und versuchte ihm verzweifelt klarzumachen, dass er Felix’ Spielchen mitspielen sollte. Sie durften ihn jetzt nicht entschlüpfen lassen.
»Okay«, sagte Jude. »Vierzig.«
»Ich bin fünfundvierzig. Fünfundvierzig Jahre, auf den Tag genau. Wissen Sie, wie lang ich schon bei KWC bin?«
Jude zuckte mit den Achseln. »Zehn, elf Jahre?«
»Viel zu viele Jahre schon. Aber wissen Sie was? Ich werde nicht mehr lange hier sein.«
»Sie steigen aus?«
»Aber mit Stil. Hab da nämlich so ein paar Pläne.«
Jude atmete tief durch. »Hören Sie, Felix, wie wär’s, wenn Sie mir das Passwort des Administrators geben? Das müsste doch reichen, oder?«
»Sind Sie völlig übergeschnappt? Soll ich Sie aufs ganze Netzwerk loslassen? Bleiben Sie mal schön bei Ihren Mergers und Acquisitions und überlassen Sie das Technische mir.«
»Kommen Sie, Felix, fünf Minuten, dann bin ich wieder draußen.«
Felix rülpste ins Telefon, lang und laut wie ein bellender Seelöwe. »Judy, dieses Gespräch nervt. Sie stören mich beim Trinken.«
Jude warf Harry einen verzweifelten Blick zu. Sie schloss kurz die Augen, dann schrieb sie ein einziges Wort auf den Block und unterstrich es doppelt:
CEO
.
Sie hatten es besprochen. Falls Felix auf die normale Überredungstaktik nicht einging, würden sie ihre letzte Karte ausspielen müssen: die des Vorgesetzten.
Jude
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