Pastetenlust
Kasse abgeben wollen. Gleichzeitig mit der höflich
formulierten Forderung nach 10.000 Euro und einer wortreichen Entschuldigung
für sein Handeln hatte F. auch sein Motiv preisgegeben. Er war als
Lagerarbeiter bei einem kleinen Gemüse verarbeitenden Unternehmen beschäftigt
gewesen. Dem knallharten, ultimativen Preisdiktat der großen Handelsketten war
das Unternehmen schließlich nicht mehr gewachsen gewesen und musste
kapitulieren. Von den 82 Mitarbeitern, die dabei ihren Arbeitsplatz verloren
hatten, waren heute noch immer 26 ohne neuen Job.
Mit der Notstandhilfe, den 450 Euro, die seine Frau als
Teilzeitkraft in einer anderen Filiale dieser Kette verdiente, den Einkünften
aus den seltenen Gelegenheitsjobs, dem Zuschuss zur Miete und den Beihilfen für
die vier noch minderjährigen Kinder standen der siebenköpfigen Familie knapp
1700 Euro im Monat zur Verfügung. Zuviel zum Sterben und zu wenig zum Leben,
fand Schneckenburger, dem zusammen mit seiner berufstätigen Frau fast das Dreifache
dieses Betrages zur Verfügung stand. Netto und 14 Mal per anno.
Ganz gegen seine sonstige Art fühlte der Ministerialrat
plötzlich eine ungeheure Wut in sich hochsteigen. Nicht auf seinen Chef und
nicht auf die Kollegen in Klagenfurt, sondern auf das System. Aber da waren
schon wieder vier neue Vergiftungsopfer gemeldet worden, zwei davon in Linz, je
eines in Amstetten und in Zwettl. Warum zahlten diese verdammten Geldsäcke
nicht endlich, damit die Leute wieder ungefährdet einkaufen konnten?
Erschrocken zog Schneckenburger diesen für einen Vertreter
der Staatsmacht unerhörten, ja obszönen Gedanken wieder zurück. Ein kleines,
aber unüberhörbares „Aber es stimmt doch” hallte aber noch den ganzen Vormittag
in seinem Kopf nach.
*
Nachdem er sich zweimal verfahren hatte, fand
Palinski endlich den Richtungsweiser mit der Aufschrift ›Reiterhof
Birkweiler-Bach‹ und bog in die schmale, geschotterte Zufahrtsstraße ein. Der
beeindruckende Gutshof mit seinen zahlreichen Nebengebäuden bot, wie man ihm
später erläutern würde, Einstellplätze für 22 eigene und 112 fremde Pferde.
Eine mittelgroße Reithalle sowie ein Viereck, ein Sandplatz und ein
Parcoursplatz rundeten das Angebot ab. Einige Tische und Stühle sowie das
Schild ›Reiterbar‹ weckten in Palinski die Hoffnung, hier einen hoffentlich
ordentlichen Kaffee bekommen zu können.
Während er das Gebräu zu sich nahm, suchte er seinen
Presseausweis. Den hatte er sich beschafft, als er sich während seiner aktiven
Arbeitslosigkeit als freier Journalist versucht hatte. Mit mäßigem Erfolg und
ebensolchen Einkünften. Da er ihn nie verlängert hatte, war der Ausweis zwar
schon jahrelang ungültig, aber ebenso lange äußerst nützlich. Palinski war nie
das gewesen, was man einen klassischen Schnorrer nennt. Essenseinladungen als
vermeintlicher Gastronomiekritiker, Prozente beim Einkaufen und ähnliche
erschwindelte Vorteile hatte er vielmehr als im Zeichen des allgemeinen
Überflusses durchaus gerechtfertigte Nothilfe für einen auf sein karges
Arbeitslosengeld angewiesenen Beschäftigungslosen betrachtet. Da sich die
Menschen den Ausweis nur in den seltensten Fällen wirklich genau ansahen und
noch keiner ihn aufgefordert hatte, den Daumen von der Marke mit dem
Gültigkeitsjahr zu nehmen, war er Palinski auch heute noch bei Recherchen sehr
nützlich. In Kombination mit seiner gediegen gestalteten Visitkarte ›Mario
Palinski – Nachrichtenagentur Omnipräsent‹ gab es kaum unüberwindbare
Hindernisse.
Etwa acht Meter von Palinski entfernt lag ein ganz lieber
Hund. Ein Golden Retriever, wenn er sich nicht sehr irrte. Der Hund hatte die
Vorderpfoten lässig gekreuzt und genoss die wärmenden Strahlen der
Frühlingssonne. Palinski liebte diese Tiere, hatte als Kind selbst eine
Promenadenmischung besessen. Leider hatte das dumme Tier eines Tages die Reaktionsgeschwindigkeit
des Fahrers eines herannahenden Pkws unterschätzt, oder den Bremsweg.
Wahrscheinlich beides.
Die Serviererin war neben Palinski stehen geblieben. „So ein
lieber Hund”, seufzte sie, „und heute muss er ins Tierasyl.”
„Ja, wieso das denn?” interessierte sich Palinski, der sich
seit Trojans schrecklichem Schicksal bewusst jeder engeren gefühlsmässigen
Beziehung zu des Menschen bestem Freund enthalten hatte.
„Das ist der Hund vom Mann unserer Chefin und den hat man
umgebracht”, plauderte die Gute los.
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