Pastworld
dich lehren, nicht mit dem Feuer zu spielen. Es dauert nicht lange, Jack, alter Freund, das verspreche ich dir. Nur ein schneller Blick, das bin ich dir schuldig. Ich bin nur auf das Herz der Dinge aus, ich muss ganz sichergehen, siehst du? Aber genau das kannst du ja gar nicht.« Er hustete und unterdrückte ein leises Lachen.
Mit einem Chirurgenskalpell machte er den notwendigen Y-Schnitt von den Schultern bis zum Schambein. Als der Brustkorb freilag, sah die Leiche so aus, als läge sie auf einem der Metzgerkarren vom Smithfield Markt. Er blickte auf das traurige, breiige Gesicht und die starren Augen hinunter. »Sinnlos, sie jetzt noch zu schließen, oder, Jack?«, sagte er.
Schließlich entfernte er Jacks Herz und wog es auf einer Metzgerwaage. »Das Gewicht eines menschlichen Herzens, dreihundertachtundsechzig Gramm«, sagte er. »Du hast ein schweres Herz und das geschieht dir nur recht, nach dem, was du mir angetan hast. Entschuldigung, versucht hast, mir – uns – anzutun.« Er nahm das glitschige Herz und legte es auf die Zinkoberfläche eines Seitentisches.
Das Phantom nähte die Autopsieschnitte so gut wie möglich zusammen. Die Stiche waren nicht sonderlich gleichmäßig, aber es würde reichen. Es legte die Gliedmaßen der Leiche gerade an den Körper. Schließlich, als ebenso plötzliche wie unerklärliche Mitleidsbezeugung oder auch aus fehlgeleiteter Barmherzigkeit, drückte er seine Finger leicht auf Jacks starre Augen und schloss sie. Dann ging er einen düsteren, langen, gefliesten Gang entlang hinaus. Unter einer Öllampe stand ein bewaffneter zerlumpter Mann Wache. Der leere Krankenhauskarren stand, in blutiges Sackleinen gehüllt, an der Wand. Das Phantom zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Tasche und reichte es dem Zerlumpten. »Diese Anzeige wird in der Morgenausgabe des London Mercury erscheinen. Es ist alles organisiert und bezahlt und hier ist der Zielort, nimm. Zieh ihn an wie besprochen und dann geh.«
Sie kehrten in den Raum zurück, der zerlumpte Mann legte die Leiche auf den Karren und rollte ihn den langen Gang hinunter.
Das Phantom trat wieder ins Licht. Er blickte lange und intensiv auf das Herz, das unter dem Schein der Öllampe lag.
18
Caleb beobachtete die Wassertropfen, die von den Ziegeln in die nassen Pfützen zu seinen Füßen fielen. Er hatte schon lange kein Wort mehr gesprochen. Sein Mund war wie zugeklebt.
»Wenn sie mich finden, bringen sie mich um«, sagte er leise.
Er bekam keine Antwort.
Er musste gehen, und zwar sofort. Er machte sich auf und spähte durch den dunklen Torweg nach draußen. Von den zerlumpten Männern war nichts zu sehen. Auf der anderen Seite standen ein paar Straßenverkäufer. Er trat zurück in den Schatten, schloss die Augen und wartete. Er hörte Schritte, die dicht an ihm vorbeigingen. Er versuchte, die Sekunden möglichst genau zu zählen. Einmal tausend, zweimal tausend. Er hatte gelernt, dass dies die richtige Methode war, eine Sekunde exakt zu messen. Das hatte ihm natürlich sein Vater beigebracht, der Wert auf größte Genauigkeit legte. Wieder sah er das zusammengeschlagene Gesicht seines Vaters vor sich. Dreimal tausend, viermal tausend. Er beruhigte sich, dann öffnete er die Augen, verließ schnurstracks den nassen Torbogen und ging hinaus auf die Straße.
19
Von der äußeren Erscheinung her wirkte BibleMac, der Taschendieb, durchaus respektabel. Er war der persönliche Assistent von Mr William Leighton, Ästhet, Händler und Sammler, der in einem historischen Haus in der Fournier Street in Spitalfields wohnte. Aber er war auch ein durchtriebener kleiner Ganove, ein ganz gewöhnlicher Taschendieb. Er war ein Zauberer der Hände, ein virtuoser Hexenmeister der Finger. Er konnte eine Brieftasche oder eine Geldbörse entwenden und das Opfer bemerkte den Verlust erst, wenn es schon viel zu spät war. Mehr als die Hälfte seiner achtzehn Lebensjahre hatte er ein raues Leben auf den Straßen von Pastworld geführt. Trotzdem hatte er sich im Inneren einen Kern von Mitgefühl bewahrt. Es gab auch Anzeichen für ein warmes, fast sentimentales Herz und vor allem hatte er Sinn für Humor und einen gewinnenden Charme. Er war anders als die anderen wilden Jungen, mit denen er von Kindesbeinen an durch die Straßen gelaufen war. Sie hatten harte Gesichter, waren skrupellos, immer bereit zuzuschlagen, zu treten oder ein Messer zu zücken. Nach ein paar Jahren waren sie die idealen Anwärter für die Truppe der
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