Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
ungeduldige Gäste geärgert – und stürmte nach draußen.
»Kilian! Kilian!«
Er bog bereits vom Hotelparkplatz auf die Straße ein. Sie fuchtelte mit den Armen und dachte schon, es sei zu spät, dann aber wendete er und kam zurück. Als sie sicher war, dass er sie tatsächlich gesehen hatte, winkte sie ihm zu und kehrte in die Lobby zurück. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrem Knöchel aus. Sie musste umgeknickt sein und hatte es nicht einmal bemerkt. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie hinter den Tresen.
»Genauso enden alle kitschigen Liebesfilme, Schätzchen!«
Maite grinste in ihren Taschenspiegel, formte einen Kussmund und strich sich die Lippen nach.
Wenig später trat Kilian mit fragendem Blick an die Rezeption.
»Carlos hat gerade angerufen«, erklärte Joana ihm immer noch atemlos. »Er meint, du kannst das Gepäck deines Bruders gleich mitnehmen.«
Kilian sah sie verdutzt an.
»Die Tasche ist hier und nicht bei der Guardia Civil?« Er betonte jede Silbe, als könne er es nicht glauben.
Joana nickte. »Ja, sie war in dem versiegelten Zimmer, aber Carlos hat die Versiegelung heute Morgen aufheben lassen. Angeblich, weil wir das Zimmer für anstehende Buchungen brauchen. Nun, das stimmt zwar nicht, aber die Polizei hat wohl bereits alles untersucht und somit keinen Grund mehr, das Zimmer versiegelt zu halten. Deswegen kannst du die Tasche gleich mitnehmen, dann brauchen wir sie nicht zu verschicken.«
»Die Tasche war in dem versiegelten Zimmer, sagst du? Und wo ist sie jetzt?«
»Im Wäscheraum«, sagte Joana. »Im Keller.«
Kilian konnte es kaum glauben. Zwar hatte er sich gefragt, was mit Xavers Gepäck geschehen war, nahm aber an, dass dieses in der Asservatenkammer des Polizeipräsidiums aufbewahrt wurde, eben bis der Fall geklärt war. Anschließend hätte man ihm sicher die Sachen nach München geschickt.
Er schüttelte den Kopf: Allem Anschein nach aber gab es überhaupt keinen Fall mehr zu klären.
Die Aufhebung der Versiegelung war Beweis genug, dass die viel beschäftigte Guardia Civil sich bereits wieder auf andere Dinge konzentrierte: Drogendelikte, beklaute Touristen, Verkehrsunfälle und häusliche Gewalt waren hier bestimmt an der Tagesordnung und über das Schicksal seines Bruders wurde auf dem Polizeirevier wohl auch nicht mehr großartig nachgedacht. Irgendwann bekäme die örtliche Polizei dann eine Kopie des Obduktionsberichts aus Granada, der Chef würde sie rasch durchblättern, darin seine Meinung zur vorherrschenden Theorie bestätigt finden, und den Bericht anschließend in irgendeinem Ordner ablegen – sofern für Xavers »Fall« überhaupt ein Ordner oder eine Akte angelegt worden war. Und letztlich würde das Dokument in irgendeinem namenlosen Schrank im Keller verstauben. Beklemmung machte sich in ihm breit, während er Joana in den Keller folgte.
Xavers Sachen waren hier im Hotel: seine persönlichen Gegenstände, alles, was er zuletzt bei sich getragen hatte. Kilian stellte sich vor, wie er Xavers Tasche öffnete, ihm der Geruch in die Nase stieg und sein Bruder Gestalt annahm. Wie der Geist aus der Flasche, dachte er.
Mit weichen Knien folgte er Joana über die Treppen in das Souterrain des Hotels. Im ersten Untergeschoss befand sich der Wellnessbereich: Sauna, Dampfbad, Indoor Pool und ein Fitnessraum. Außerdem einige Räume für Massagen, Kosmetik und ein Friseurladen. Joana öffnete mit ihrer Chipkarte eine Tür, und sie betraten einen für Gäste abgesperrten Bereich, der die Wäscherei des Hotels, Haustechnikräume sowie einige Lagerräume enthielt.
Neonröhren brannten an der Decke eines langen Korridors. Vor drei Tagen hatte er einen ganz ähnlichen Korridor betreten. Er erinnerte sich gut. Er wankte vor fiebriger Aufregung und hoffte, dass alles nur ein Irrtum war und sein Bruder an einem Strand bei Marbella lag – und nicht in der Gerichtsmedizin. Wie oft hatte er schon eine jener Szenen im Fernsehen verfolgt, in der ein naher Verwandter vor eine Bahre trat und ein Arzt in grünem Kittel das weiße Leinentuch für einen Moment lang anhob. Kilian wechselte in solchen Momenten stets den Sender, bis diese Sequenz vorbei war. In jener Szene vor drei Tagen aber war er der Hauptdarsteller gewesen: Weder hatte er die Bühne verlassen noch in eine andere Rolle schlüpfen können. Er musste den septischen Geruch einatmen und den dumpfen Schmerz der Gewissheit ertragen, als der Vorhang wie bei einer Bühne zur Seite geschoben wurde. Durch
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