Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
eine Glasscheibe starrte er auf das blutleere Profil und seine immense Anspannung wandelte sich in trostlose Gewissheit. Unter Tränen bestätigte er den Tod seines Bruders. Der Beamte, der ihn begleitete, sagte noch irgendetwas zu ihm, aber er verstand rein gar nichts mehr: weder die Sprache, in der man ihm etwas mitteilte, noch, wie es dazu gekommen war, dass sein Bruder dort aufgebahrt lag …
»Hier drinnen!«
Joana öffnete eine unverschlossene Tür. Der Raum maß etwa sieben Quadratmeter und roch nach Weichspüler. In deckenhohen Regalen lagerten Leinentücher, Handtücher, Tischtücher, Servietten und Toilettenrollen. Kilian erkannte die schlauchförmige Nike-Tasche seines Bruders, die auf einem Stapel mit Kopfkissenüberzügen lag wie eine vollgefressene Mottenlarve.
Joana blieb an der Tür stehen und sah zu, wie Kilian die Tasche auf einen Tisch stellte. Er öffnete den Reißverschluss, hielt inne, warf ihr einen raschen Blick zu und sie starrte unwillkürlich zu Boden. Kilian zog den Reißverschluss wieder zu.
»Ich will dich nicht länger aufhalten«, sagte er und trat mit geschulterter Tasche an ihr vorbei in den Flur. Wieso sagt er nicht, dass er in diesem Moment allein sein will?, dachte sie, als sie die Tür hinter sich schloss. Zurück an der Rezeption, küsste er sie nochmals auf die Wangen und verschwand mit einem Wink in Richtung Maite durch die Drehtür.
»Ihr wart aber lange weg!«, konnte sich Maite nicht verkneifen und dehnte das Wort »lange« wie einen Kaugummi. »Dabei hättest du dir ruhig noch mehr Zeit nehmen können, ich komme – wie meistens! – schon alleine hier zurecht.« Joana rollte mit den Augen. »Maite … bitte ! Wir waren in der Wäschekammer wegen der Tasche – sag mal, wann kommt die Reisegruppe aus Toledo an?«
Maite ließ sich nicht so ohne Weiteres ablenken und stichelte weiter: »So, so. Soweit ich informiert bin, stehen Deutsche auf Sex in Wäschekammern. Dieser blonde Tennisspieler, der hat in einer Wäschekammer sogar eine Tochter gezeugt und das soll angeblich schneller gegangen sein, als die Zeit, die ihr gebraucht habt, um diese Tasche zu holen!«
»Quatsch!«, erwiderte Joana und winkte ab, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Maite mit ihrem losen Mundwerk war die Einzige, die sie behandelte, als wäre das mit ihrer Schwester niemals geschehen – was ihr lieber war, als die übertriebene Rücksichtnahme anderer Kollegen. Aber weder deren Anteilnahme noch Maites Aufmunterungsversuche konnten sie über die vergangenen zwei Jahre hinwegtrösten. Sie blätterte gerade durch die »Ideal«, die meistgelesene Tageszeitung der Provinz Granada, als ein Autobus vor dem Eingang parkte. Eine in der Lobby wartende Reisegruppe aus Birmingham folgte einer pferdegebissigen Frau und ihrem Thomson-Travel-Schild zum wartenden Bus, der sie für einen Tagesausflug zur Alhambra fahren sollte. Als in der Lobby wieder Ruhe eingekehrt war und Joana gedankenversunken die Nase des spanischen Ministerpräsidenten auf der Titelseite nachmalte, zupfte Maite sie am Ärmel: »Die Trennung fällt euch wohl sehr schwer, oder? Jetzt fragt er dich bestimmt nach deiner E-Mail – um was wetten wir?«
»Was …?«
Eine Tasche klatschte vor ihr auf den Empfangstresen: Kilian.
»Du sagtest, die Guardia Civil hätte die Tasche untersucht?«
Sie wusste nicht, ob sein Zorn ihr oder der Guardia Civil galt und nickte nur. Kilian zog den Reisverschluss auf. Maite verstand offenbar auch ohne Deutschkenntnisse, dass es ein Problem gab und trat Joana entschlossen zur Seite.
»Nun … «, sagte Kilian leise und ein gefährlicher Unterton lag in seiner Stimme, »kann sein, dass man seinen Bruder nicht so gut kennt, dass man ihm keinen Suizid zutraut, aber eins weiß ich genau: Gläubig war er nicht! Er war ein Atheist. Das war seine Art gegen unseren Vater zu rebellieren, der ihn jeden Sonntag in die Kirche schleppte. Xaver hatte mit der katholischen Kirche nichts am Hut und schon gar nicht würde er eine spanische Bibel mit sich herumschleppen. Vollkommen ausgeschlossen! Aber das hier …«, er zog ein speckiges schwarzes Buch aus der Tasche und warf es auf die Theke, wo es zu Joana rutschte und halb über der Kante der Marmorplatte liegen blieb, »das hier lag in seiner Tasche!«
»Ich verstehe nicht …« Joana nahm das abgegriffene Buch zur Hand und blätterte darin. Von diesen Bibeln gab es nicht viele, sie musste sehr alt sein. Die fleckigen Seiten, der raue Einband unter ihren
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