Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
Fingern, die obere Ecke des lederbezogenen Buchdeckels, zerfleddert, als hätte eine Kirchenmaus daran genagt. »Aber das ist doch … und die war in der Tasche? Das kann nicht sein!«, stotterte Joana, aber Kilian zuckte nur mit den Achseln.
»Wenn ich es dir doch sage. Sie lag ganz oben drauf.«
Joana legte die Bibel behutsam neben das Telefon und klappte langsam, als wäre das ganze Ding eine Schachtel, aus der jederzeit eine giftige Schlange hervorkriechen könnte, den Buchdeckel auf: »Inmaculada Ramos Ortiz« stand mit Bleistift auf der Innenseite des Buchdeckels geschrieben. Sie faltete beide Hände vor dem Gesicht und starrte zu Maite hinüber, als ob diese ihr dafür eine Erklärung geben könnte. Maite nahm die Bibel zur Hand und ließ die Weihrauch verströmenden Seiten bis zum letzten Blatt unter ihrem Daumen durchflattern. Dahinter schimmerte Farbe durch das bröselige Papier. Maite blätterte die letzte Seite um und fand zwei Bilder, die am hinteren Buchdeckel klebten. Zögerlich reichte sie die Bilder an Joana weiter. Das Erste war ein Abbild der betenden Jungfrau Maria. Aber als Joana das zweite Foto betrachtete, musste sie sich an der Arbeitsplatte abstützen, da sich alles zu drehen begann – nur das Foto selbst lag ruhig im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, als wäre es das Auge eines Hurrikans: Es zeigte ein braunes Pony, auf dem ein junges Mädchen saß. Carmen.
13
J oana wirbelte mit dem Handy in der Faust durchs Büro wie ein Boxer im Ring. Abermals presste sie das Telefon ans Ohr, aber schon zum fünften Mal blieb der Anruf bei ihrer Mutter unbeantwortet. Maite drehte sich auf ihrem Bürostuhl im Kreis und Kilian lehnte mit verschränkten Armen an der Eingangstür und ließ die Bibel, die nun auf dem Schreibtisch lag, nicht aus den Augen. Keiner sagte ein Wort und jeder ging für sich der Frage nach, wie Inmaculadas Bibel mit Carmens Foto in Xavers Reisetasche gelangt sein konnte. Solange Joanas Mutter aber nicht zu erreichen war, blieb alles Spekulation, und je länger sie darüber nachdachten, desto merkwürdiger erschien ihnen dieses Rätsel.
Schließlich wählte Joana die Nummer der Guardia Civil und erkundigte sich, welcher der Beamten dort die Tasche untersucht hatte. Es dauerte ein paar Minuten, in denen sie wiederholt wütend mit dem Fuß auf den Boden stampfte, ehe sie mit Paco verbunden wurde. Paco konnte sich daran erinnern, in dem Gepäckstück verschiedene Bücher gefunden zu haben: einen Reiseführer, zwei Romane, aber an eine Bibel erinnerte er sich nicht. Die Tasche wäre allerdings nicht sehr akribisch untersucht worden, da kein Verdacht auf Fremdeinwirkung bestand und die Spurensicherung nicht hinzugezogen wurde. Wieso sie das wissen wollte?
Joana unterbrach das Gespräch, wählte erneut die Nummer ihrer Mutter, zählte die zwölf Signale mit, und hinterließ ihr eine weitere Aufforderung – um einen Ton verzweifelter als die vorangegangenen –, sich doch endlich bei ihr im Hotel zu melden.
Sie erörterten verschiedene Möglichkeiten, aber keine davon ergab den geringsten Sinn.
Xaver traf Inmaculada zufällig auf der Straße. Es war wohl auszuschließen, dass Joanas Mutter ihm bei dieser Gelegenheit ihre Bibel schenkte, jenes spezielle Buch, das seit Jahrzehnten die Basis ihres Glaubens bildete. Vielleicht hatte sie die Bibel im Hotel vergessen und Xaver hatte sie nichtsahnend eingesteckt? Das war Maites Überlegung. Aber Joana meinte, dass ihre Mutter die Bibel ausschließlich mit in die Kirche nähme und sie ansonsten daheim in ihrem Nachtkästchen verwahrte. Wie auch immer man es drehte und wendete, am wahrscheinlichsten war, dass irgendjemand, der Zugang zu dem versperrten Bereich besaß, die Bibel in die Tasche gesteckt hatte, nachdem diese am Morgen in der Wäschekammer eingelagert worden war.
Inmaculada aber konnte es nicht gewesen sein. Sie war seit drei Tagen nicht zur Arbeit erschienen und wieso sollte jemand anders …?
Wieder versuchte Joana vergeblich, ihre Mutter zu erreichen, als Carlos das Büro betrat.
Der Direktor des »Palace« versuchte erst gar nicht, seine schlechte Laune zu verbergen. Nicht nur, dass sich ein Hotelgast im Hinterzimmer aufhielt (der dort nichts zu suchen hatte), obendrein war auch noch der Empfang unbesetzt. Und das nur, weil die beiden Damen offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten, als privat zu telefonieren und zu tratschen.
»Was ist denn hier los und wieso sitzt niemand am Empfang?«, keifte er, um ein Minimum an
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