Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
aller Kürze, was sie eben erfahren hatte. Kilian wollte etwas einwerfen, aber sie kam ihm zuvor: »Und es kann auch keine Verwechslung gewesen sein. Oscar kennt meine Mutter – und der Typ für solche Scherze ist er auch nicht!«
Sie kamen an einer roten Ampel zu stehen. Auf grünes Licht zu warten, dazu war jetzt keine Zeit. Sie wedelte mit der Hand, damit Kilian endlich aufs Gaspedal drückte. Sie fuhren über die Kreuzung und er fragte sie etwas, aber sie hörte nicht zu. Dass ihre Mutter ein Taxi genommen hatte, war ungewöhnlich genug, aber wieso sollte sie mitten in der Nacht, fünf Stunden früher als normal, zu ihrem Arbeitsplatz fahren? Außerdem – warum hatte sie nicht wie üblich den Haupteingang benutzt? Das war für sie der kürzeste Weg. Das Hotel verfügte über verschiedene Nebeneingänge für Personal, Lieferanten, Tiefgarage und einen direkten Eingang zum Wellness- und Fitnessbereich, aber hatte Inmaculada tatsächlich einen dieser Eingänge gewählt, dann hätte sie durch das halbe Hotel laufen müssen, um zu ihrer Arbeit zu gelangen. Joana besann sich. Oscar gegenüber hatte ihre Mutter ja behauptet, gar nicht zur Arbeit fahren zu wollen. Aber wohin dann? Litt sie unter plötzlicher Verwirrung wie jemand, der aus dem Altersheim weglief, durch die Straßen irrte und sich danach an nichts mehr erinnerte? Unmöglich! Ihre Mutter – so verzweifelt sie wegen Carmens Verschwinden auch sein mochte – war immer noch bei klarem Verstand und eine Demenz entwickelte sich wohl auch nicht über Nacht. Wie sie es auch drehte und wendete, all ihre Überlegungen trafen sich immer wieder am selben Punkt: Ihre Mutter musste sich im Hotel befinden, obwohl sie angeblich niemand bemerkt hatte. Joana wagte nicht, darüber nachzudenken, was mit Inmaculada geschehen sein mochte.
Joana eilte durch die nächtliche, verlassene Lobby auf den Tresen zu. Aufgeschreckt vom Widerhall ihrer Schritte kam Miguel, der Nachtconcierge aus dem Büroraum hinter der Rezeption.
»Hast du letzte Nacht während deines Dienstes meine Mutter gesehen?«, fragte sie ihn ohne Umschweife.
Miguel sah sie erstaunt an. »Ähm, nein. Während meiner Nachtschicht hab ich deine Mutter hier noch nie gesehen. Sie arbeitet doch tagsüber.«
Joana schnaufte. »Ich weiß sehr wohl, dass meine Mutter hier am Tag die Zimmer reinigt und nicht in der Nacht, wenn die Gäste schlafen, aber sie ist gestern um drei Uhr morgens von einem Taxi hergebracht worden! Du müsstest sie also gesehen haben!«
Miguel schluckte. »Ich … nein! Ich hab sie letzte Nacht nicht gesehen. Bestimmt nicht!«
Joana ließ ihn stehen und betrat das Büro. Ihr fiel auf, dass ihr Kollege es sich während der Nachtschicht gemütlicher machen konnte als sie und Maite am Tag: Das Stillleben auf dem Schreibtisch bestand aus einem angebissenen Sandwich, einer Dose San-Miguel-Bier und einem aufgeschlagenen Tittenmagazin. Aus dem Transistorradio rauschte eine Flamenco-Schnulze, als wäre die Frequenz nicht akkurat eingestellt. Es roch nach abgestandenen Fürzen. Joana rümpfte die Nase, öffnete den Schlüsselkasten und nahm einige Schlüssel von Räumlichkeiten zu sich, die sie mit ihrer Zugangskarte nicht öffnen konnte.
Miguel blieb im Türrahmen stehen. Er fühlte sich ertappt.
Nicht dass Joana seine Chefin wäre, aber sie arbeitete schon viel länger als er an dieser Rezeption. Außerdem war sie die Vertrauensperson des Hoteldirektors. Trotzdem wusste er, dass nicht einmal sie außerhalb ihres Dienstes hier hereinplatzen und sich unerlaubt Zutritt zu Bereichen verschaffen durfte, in denen sie um diese Uhrzeit nichts zu suchen hatte. Schließlich war er hier als Nachtportier zwischen zehn Uhr abends und acht Uhr morgens für alles verantwortlich.
Joana erklärte ihm, dass ihre Mutter verschwunden sei und dass sie sich irgendwo im Hotel befinden müsse. Sie würde sie jetzt suchen gehen und der Chef wüsste Bescheid. Miguel kratzte sich am Kopf und trat zur Seite. Es war ihm klar, dass Joana ihn bei Carlos anschwärzen könnte, weil er nicht wie vorgeschrieben draußen an der Rezeption saß, sondern sich im Büro die Zeit vertrieb. Aber wenn er seinen Mund hielt, würde sie es auch tun. Grinsend starrte er ihr und dem Glückspilz nach, bis sie um die Ecke verschwunden waren. Das hätte er seiner zugeknöpften Kollegin von der Tagesschicht wirklich nicht zugetraut – spazierte hier herein, grapschte sich den Schlüsselbund und bumste sich mit diesem Kerl quer durch den
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