Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
Moment angerempelt worden zu sein, in dem sein Begleiter auf den Auslöser drückte: Ein mäßig erschrockener Ausdruck lag auf Xavers Zügen, sein Mund stand offen, das Glas hielt er schräg und eine braun schäumende Flüssigkeit schwappte über den Rand des Pints. Es hätte ein spaßiges Foto sein können, wenn es nicht eines seiner letzten gewesen wäre.
Der nächste Tag stand anscheinend ganz im Zeichen der Alhambra. Der Reiseführer beschrieb das Bauwerk als Spaniens meistbesuchte Touristenattraktion. Kilian zappte sich durch mehr als zwanzig Fotos dieser letzten maurischen Bastion, die laut Reiseführer 1492 von den Reyes Católicos im Zuge der Reconquista von den Spaniern zurückerobert wurde.
Die Fotos zeigten prachtvolle, wie mit der Schere geschnittene Gärten, imposante Säle, in denen sich Dutzende von Touristen bewegten und trotzdem irgendwie verloren wirkten und Detailaufnahmen von Rundbögen und Kuppeln, deren arabische Verzierungen in purem Gold glänzten.
Das letzte Foto der Alhambra, und das vorletzte der gesamten Reise, war auf dem Dach eines Turmes aufgenommen worden. Die Zinnen im Rücken, posierten Xaver und der Däne erneut vor der stattlichen Kulisse Granadas, die von der Abendsonne in ein glutrotes Licht getaucht wurde. Aber es war kein romantisches Bild, so wie jenes vor ähnlicher Kulisse in Córdoba. Kilian zoomte die Köpfe heran. Xaver wirkte abgespannt, oder müde von der Besichtigung. Sein Bruder sah nicht direkt in die Kamera, sondern schien einen Punkt rechts davon zu fixieren. Der Däne hingegen hatte sich eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt. Die Augen kniff er – wohl zum Schutz vor dem Qualm – zusammen, was ihm einen verbissenen Eindruck verlieh. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er da und Kilian fiel auf, dass der Abstand zwischen den beiden eine ganz Burgzinne betrug.
Hatten sie sich gestritten? Waren sie dabei, sich zu trennen? Kilian tippte mit dem Finger auf die Zigarette im Display und dachte wieder an die Kippen aus dem Mietwagen. Er musste zur Polizei! Die Zigarettenreste hatten sie ja schon, jetzt konnte er der Guardia Civil auch noch die Fotos von dem Mann zeigen. Vielleicht hielt sich der Däne sogar noch in Spanien auf oder wohnte gar hier. Die Guardia Civil musste nach ihm fahnden und herausfinden, ob er etwas mit Xavers Tod zu tun hatte oder nicht.
Kilian legte die letzten Kartenabrechnungen beiseite. Nach Granada gab es nichts mehr zu notieren. Xaver musste im Anschluss an den Besuch der Alhambra nach Almuñécar gefahren sein, wo er ohne Begleitung um achtzehn Uhr im Hotel eintraf. Gegen zwanzig Uhr besorgte er sich ein Schinkenbrot aus der Cafeteria und nahm es mit auf sein Zimmer, Nummer 328, wo er in derselben Nacht verstarb. Aber wo blieb der Däne?
Kilian überflog die vier Blätter, auf denen er alle wichtigen Details zu Xavers Reise notiert hatte. War der Däne die Schlüsselfigur? Wenn er mit der Guardia Civil sprechen wollte, brauchte er Hilfe. Am liebsten von Joana, aber die konnte er unter diesen Umständen unmöglich belästigen. Blieb noch Frau Schimmler vom Konsulat.
Kilian drückte auf die Taste an der Rückseite der Kamera: Das allerletzte Bild hatte Xaver vom Balkon seines Hotelzimmers aus aufgenommen. Derselbe Blick über Almuñécar, den er auch von seiner Terrasse her kannte, nur war das Foto durch das Gegenlicht etwas zu dunkel geraten. Kilian schaltete die Kamera ab und schob alles von sich.
Gestern hatte er keine drei Stunden geschlafen. Er brauchte dringend Ruhe, bevor er eine vernünftige Entscheidung treffen konnte.
Kilian streifte die Schuhe ab. Sich seiner Kleidung zu entledigen, erschien ihm zu mühselig, und so legte er sich angezogen aufs Bett und starrte an die Decke.
Trotz seiner Erschöpfung und der Müdigkeit gewährte ihm sein geistiges Auge jedoch keine Ruhe und führte ihm wie ein kaputter Diaprojektor immer wieder dieselben zwei Bilder vor: das eine, die liebevolle Umarmung auf der Wanderung, und das andere – als emotionales Gegenteil – das Foto vor den Burgzinnen. Kilian schloss die Augen. Er hätte nicht so tief in Xavers letzte Tage eindringen dürfen. Dann wäre das Bild, das er von ihm hatte, jetzt nicht … beeinträchtigt . War es das? Nur weil er herausgefunden hatte, dass Xaver schwul war? Schwachsinn. Aber dennoch wäre es ihm lieber gewesen, er hätte Xavers geheime Neigung nicht entdeckt. Eigentlich wollte Kilian nichts sehnlicher, als noch einmal mit Xaver sprechen – richtig
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