Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
vom Hof gejagt.
Kilian sann darüber nach, was Xaver aus Riedhofen vertrieben haben mochte. War es nur die Tyrannei ihres Vaters gewesen? Oder war der Grund auch damals schon der, dass es sich in München als Homosexueller wohl einfacher lebte als in Riedhofen? Kilian dachte an ihr brüderliches Verhältnis. Nach seinem Fortgang aus Riedhofen hatten sie nicht mehr viel Kontakt gehabt. Er war in Passau im Seminar und Xaver in München in der Lehre. Nur hin und wieder telefonierten sie. Sprachen sie damals über Frauen? Er selbst durfte es freilich nicht, aber sein Bruder? Kilian fragte sich, ob Xaver sich schon seit seiner Geschlechtsreife zu Jungs hingezogen fühlte, oder ob er erst vor Kurzem seine homosexuelle Neigung entdeckt hatte. Er erinnerte sich an einen Fernsehbericht über einen Familienvater, der seine Frau und seine Söhne erst mit fünfzig mit seiner wahren Neigung konfrontierte und im nächsten Bildschnitt in schwarzes Leder gekleidet in einer Homokneipe tanzte.
Der Regen, der weiterhin aus den Wolken über der Costa Tropical auf seine Stirn prasselte, beschwor Bilder der Beerdigung seines Vaters herauf. Auch damals war es ein verregneter Tag gewesen. Auf dem von Ulmen gesäumten Dorffriedhof hatte sich die stattliche Anzahl von vier Personen versammelt: der Pfarrer, zwei Ministranten und er selbst. Xaver hatte seinen Vater seit dem Vorfall mit der Mistgabel nicht wiedergesehen, nicht einmal zu Weihnachten. Und auch zu seinem Begräbnis kam er nicht aus München angereist. Ihre Mutter war schon zu schwach, um an der Beerdigung teilzunehmen, und Freunde besaß sein Vater im Ort auch keine, dafür aber Feinde: benachbarte Bauern, mit denen er, seit er denken konnte, über die Ackergrenzen stritt. Mit den beiden Brüdern und deren Familien war sein Vater seit dem Tod der Großeltern zudem in einen Erbstreit verwickelt. Wohl auch ein Grund, warum sich von der Verwandtschaft niemand an diesem Tag für einen letzten Abschied blicken ließ. An seinen nichtigen Auseinandersetzungen war der verbitterte Mann, der sein Vater am Ende nur noch war, dann wohl auch gestorben. Ihm selbst blieb nach dem Infarkt seines Vaters nichts anderes übrig, als sich um den Bauernhof und um seine bettlägrige Mutter zu kümmern. Eine Aufgabe, für die er sein Seminar in Passau unterbrechen musste.
Kilian nahm einen tiefen Schluck von dem vom Regen durchwässerten Bier.
Die Monate, die auf den Tod seines Vaters folgten, blendete er aus, als hätten sie nie existiert. Als er später aus der Haft entlassen wurde, konnte er nicht nach Passau zurück, da man ihn des Seminars verwiesen hatte: Er sollte Gott dienen und sich nicht zu einem solchen aufspielen. Auch nach Riedhofen kehrte er nicht zurück. Jeder hätte nur mit dem Finger auf ihn gezeigt. Also zog er dorthin, wo sein Bruder wohnte: nach München. Aber Xaver wollte wegen der Ereignisse in Riedhofen nichts von ihm wissen und mied drei Jahre lang jeden Kontakt, bis sie sich eines Abends am Weihnachtsmarkt über den Weg liefen.
Bei ein paar Tassen Glühwein gab Xaver ihm erstmals die Gelegenheit, seine Sicht der Vorfälle in Riedhofen zu erklären. Xaver verstand und verzieh! Und danach feierten sie das schönste Weihnachtsfest seines Lebens: keine Kirchgänge, keine Gebete, keine Kerzen, keine Geschenke, gar nichts Katholisches. Nur ein Grillhuhn, ein Kasten Bier und eine Flasche Asbach Uralt. Als Weihnachtsbaum diente ein Kaktus, den sie mit Karnevalsgirlanden dekorierten. Für ihn war es mehr als Weihnachten gewesen: Es war die Wiedergeburt ihrer Brüderlichkeit, ihrer Freundschaft – und eine Befreiung von seinen bisherigen Konventionen. Danach trafen sie sich wenigstens einmal die Woche, meistens donnerstags, aber kaum jemals sah er seinen Bruder in Begleitung einer Frau, und wenn, dann stellte er sie ihm als eine Freundin vor und nicht als seine Freundin. Xaver und schwul. Er konnte es immer noch nicht glauben. Interpretierte er vielleicht zu viel hinein in dieses Digitalfoto? Xaver sprach zwar manchmal von Freunden oder Kollegen aus der Bank, stellte sie ihm aber niemals vor.
Kilian fühlte einen Stich in der Brust. Also hatte Xaver seine Homosexualität vor ihm verborgen, und es war weniger die allmähliche Gewissheit über Xavers sexuelle Neigungen, als vielmehr der Umstand, dass sein Bruder ihm offenbar kein Vertrauen entgegengebracht hatte, die ihn jetzt schmerzte.
Kilian erhob sich schwerfällig und lehnte sich an die Brüstung. Der Poolbereich war immer noch
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