Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
leer, nur ein Hausmeister fischte mit einem Netz nach Blättern an der Oberfläche. Ansonsten war niemand zu sehen. Keine Zeugen. Fünfter Stock. Ungefähr zwanzig Meter. Drei oder vier Sekunden … und es wäre überstanden. Man hätte kaum Zeit zum Nachdenken. Oder um den Sprung zu bereuen. Er spuckte hinab und wartete, ob er den Aufprall des Speichels hören konnte, aber er war zu leise.
Kilian betrat sein Zimmer und stieß dabei mit der Schulter gegen den Türrahmen. Das Bier zeigte seine Wirkung, gerade auf nüchternen Magen. Er sollte besser etwas essen – und er wollte Joana sehen. Zögernd griff er zum Hörer, drückte auf die Taste für den Empfang, legte aber nach dem achten Freizeichen wieder auf. Er musste Xavers Reise zu Ende recherchieren, vielleicht war der dänische Freund ja tatsächlich für den Tod seines Bruders verantwortlich.
Kilian warf sein nasses Shirt auf den Boden und setzte sich mit nacktem Oberkörper an den Schreibtisch. Xaver hatte also einen Dänen, den er selbst auf Mitte zwanzig bis Anfang dreißig schätzte, in Sevilla kennengelernt. Von dort war dieser mit Xaver nach Córdoba gereist, wo sie sich gemeinsam fotografieren ließen, und zwar nicht in kumpelhafter Umarmung, sondern versteckt Händchen haltend. Der Däne musste bis dahin der Einzige gewesen sein, der mit seinem Bruder näheren Kontakt auf der Reise hatte. Kilian drückte an den Bedienungspfeilen, bis das Gesicht des Dänen den kleinen Bildschirm ausfüllte. Die modische Brille, ein Ohrring, der blonde Bürstenschnitt, sympathische Grübchen an den Wangen, heller Flaum statt Bart … als homosexuell konnte man sich ihn durchaus vorstellen, aber als Mörder?
»Deine harmlose Visage bedeutet gar nichts«, sagte er zu dem digitalen Gesicht und sortierte aus den verbleibenden Abrechnungen die einzige für Córdoba heraus. Erstmals auf der Reise wählte sein Bruder eine Unterkunft mit fünf Sternen. Eine Nacht im Doppelzimmer inklusive zweier Dinner im Hotelrestaurant und zweimal Frühstück am nächsten Morgen, das Ganze für 376 Euro, eine Summe, die Xaver am 16. April um 10.32 Uhr mit seiner Karte beglich. Die beiden verbrachten also die Nacht zusammen! Kilian blickte auf die restlichen, wenigen Abrechnungszettel. Xavers Reise näherte sich dem tragischen Ende und der Däne begleitete ihn dabei. Auch auf ihrer nächsten Station war der Fremde mit von der Partie. Fotos von verschiedenen Aufnahmen der historischen Altstadt Córdobas wechselten ohne Übergang zu Bildern in eindrucksvoller Natur. Xavers Begleiter posierte auf einer Holzbrücke, die sich über einen Wasserfall schwang, und lächelte in die Kamera. Im Hintergrund fanden sich auf beiden Seiten Felsformationen einer Schlucht, die über den Kamerafokus hinausragte. Kilian sortierte die verbliebenen Kreditkartenbelege chronologisch durch. Die nächste Abrechnung – ebenfalls vom 16. April – stammte von einem Tankstopp nahe einem Ort mit dem Namen Ubeda. Kilian klappte die letzte Doppelseite des Reiseführers auf, suchte, und fand den Ort auf der Andalusienkarte. Offenbar gehörte er zur Provinz Jaén. Beim Blättern durch diese Rubrik stellte Kilian fest, dass es sich bei dem neuen Ziel um den Nationalpark der Sierra de Cazorla handeln musste, dem im Reiseführer ganze neun Seiten gewidmet waren. Die Fotos zeugten von einer gebirgigen Landschaft, von Seen und Wanderwegen neben klaren Gebirgsbächen und von Olivenhainen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Ein Bild zeigte ein Dorf, dessen kreideweiße, ineinander verschachtelte Häuser wie versteinerte Angreifer längst vergangener Zeiten einen Hügel emporkrochen, auf dessen Kuppe eine maurische Burg thronte. Dieser Nationalpark schien wahrlich ein Paradies für Wanderer zu sein. Sein Bruder und der Däne blieben dort für zwei Nächte, wie er der Rechnung des Hotels »Parador de Cazorla« entnahm.
Die nächsten fünfundzwanzig Fotos bestanden im Wesentlichen aus Landschaftsaufnahmen. Auf ein paar Abzügen war Xaver zu sehen und auf einigen anderen sein dänischer Begleiter. Auf einem Foto posierten sie zusammen vor einer Wassermühle neben einem Bach. Die Fotografie konnte, wie Kilian glaubte, nur mit dem Selbstauslöser aufgenommen worden sein: zu eindeutig war die Pose der beiden Männer; Kilian mochte sich kaum vorstellen, dass sie einen Fremden um die Aufnahme gebeten hatten. Oder versteckten sich Homosexuelle in Spanien gar nicht mehr und tauschten Zärtlichkeiten in aller Öffentlichkeit aus? In
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