Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
pochen. Er war zehn. Und am liebsten wäre er nie älter geworden. Am Ende des Weges wuchs ein großer Büschel Sauerampfer unter einem Baum vor seinem Elternhaus. Als George sich gerade erinnerte, wie er sich keuchend und neugierig hingekniet hatte, um wie ein Kaninchen ein frisches Blatt zu probieren, ging er unter.
Etwas Metallisches traf George am Kopf. Instinktiv wedelte er mit den Armen und tauchte keuchend auf. Auf dem Wasser schwamm eine Konservendose. George sah einen Jungen am Ende des Kais sitzen und mit den Beinen baumeln. Ein kleiner, kurz geschorener Kopf schnitt ein Loch in den Himmel. Plötzlich verschwand er. Wut schoss heiß durch müde alte Adern. »Der kleine Flegel …« George rang nach Luft. Kälte lähmte ihn wie Bleigewichte. Er geriet in Panik. Der Junge tauchte wieder am Rand der Kaimauer auf. George schrie um Hilfe. Ein dünner Arm holte Schwung, etwas Kantiges beschrieb einen weiten Bogen am Himmel wie eine lichtlose Sternschnuppe und prallte dumpf aufs Wasser. Der Arm holte erneut aus.
»Was zum Teufel machst du da«, brüllte George. Hektisch streifte er seinen Mantel ab und paddelte wütend zur Seite. Gelassen verfolgte der Junge den Weg des Schwimmers, ging am Rand der Kaimauer entlang und warf alte Bretter ins Wasser. Sie landeten rund um ihn herum. George hievte sich die rostige Leiter hinauf, brach auf dem Kai zusammen und spuckte Wasser. Seine Zähne arbeiteten um die Wette mit lebhaften Erinnerungen, und er fing an zu weinen. Die Sonne schien warm auf seinen Nacken, er war wieder ein Junge, kniete am Fuß eines Baumes und knabberte an einem Blatt. Es schmeckte erstaunlich bitter, dabei hatte er es sich süß vorgestellt. Er reckte den Kopf und öffnete die tränenden Augen:
Der Junge schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen zum Zaun.
George wollte rufen, bekam aber keinen Ton heraus. Er stand mühsam auf und stolperte hinter seinem Peiniger her. Mehrmals fiel er hin und schrammte sich Hände und Knie auf. Der Schmerz machte ihn schneller. Verzweifelt setzte George seine lächerliche Verfolgung fort, getrieben von einem unsinnigen Drang, eine elementare Dankbarkeit auszudrücken. Im Schein einer Straßenlaterne duckte der Junge sich durch ein Loch im Maschendraht. Als George triefend auf der Straße stand, die an Mr. Lawtons zerfallenem Reich vorbeifühlte, war der Angreifer verschwunden.
Ein paar Stunden später wankte George unter die Feuerleiter und stellte verdutzt fest, dass sein Bett gemacht war. Als Schmerzen und ein heftiges Zittern die Oberhand gewannen, drängte eine Täuschung sich in seinen letzten wachen Augenblick: Er hätte schwören können, dass er eine Gestalt von oben die Treppe herunterkommen sah.
19
NACHDEM NANCY RILEY in seinem Schaukelstuhl hatte sitzen lassen und ins Bett gegangen war, hielten quälende Fragen sie wach. Wo war Mr. Johnson? Was sollte sie mit seinen Heften machen? Wer war der Mann auf dem Foto? Bei dieser letzten Frage war Nancy allerdings schon ein Stück weitergekommen: Er könnte Rileys Vater sein, dachte sie, weil er nie von ihm sprach. Vielleicht hatte seine Mutter es geschickt, denn von ihr sprach er auch nie. So war Riley eben. Er war so anders, dass man sich auch nicht wundern würde, wenn er nie Eltern gehabt hätte. Sie musste über ihren eigenen Witz lachen, drehte sich auf die andere Seite und schüttelte ihr Kissen auf. Während sie Arnold lauschte, wurde sie schließlich doch schläfrig.
Nancy wachte auf. Irgendetwas war anders im Haus, aber sie wusste nicht, was. Riley lag nicht neben ihr … aber sie hörte ihn in der Küche. Die Hintertür ging auf und wieder zu. Ein Anflug von Mitgefühl lockte sie aus dem Bett ans Fenster: Ihr Mann konnte nicht ins Bett kommen; er musste sich so müde laufen wie ein Hund, damit seine Gedanken ihn nicht mehr quälen konnten. Das hatte die britische Justiz ihrem Mann angetan – einem Mann, der nichts Unrechtes getan hatte.
Sie zog den Vorhang einen Spalt auf. Anfangs konnte sie nichts sehen. Auf der anderen Seite drang an einigen Fenstern Licht aus den Ritzen … und die Mülltonnen standen draußen. Ihr Atem ließ die Scheibe beschlagen. Sie rieb sie mit dem Ärmel ihres Nachthemds blank, und dann sah sie ihn. Riley war am Ende der Straße. Sie erkannte seinen Gang an den Armen, die schlenkerten wie lose Seile.
Nancy legte sich wieder ins Bett, und zwanzig Minuten später schlüpfte Riley unter die Decke. Sie rührte sich nicht, und auch er bewegte sich nicht.
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