Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
er schnell die Treppe hinauf.
Nick saß auf dem Sofa am Couchtisch in der Wohnung in Shoreditch. Die alte Frau trug ein gelb geblümtes Kleid, als wolle sie gleich in die Kirche oder zu einer sommerlichen Gartenparty gehen. Sie hatte Ohrringe, eine Halskette und quietschende Lederschuhe an. Das Zimmer war verdächtig aufgeräumt, aber kalt, obwohl ein Radiator knackend lief. Sie hatte die Fenster geöffnet und einen Lufterfrischer benutzt. Nick empfand die Flut der Bilder und Eindrücke als äußerst surreal. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mutter durch das schmutzige Treppenhaus gegangen war und dieser Erscheinung mit den silbernen Haaren und dem tragischen Blick gegenübergesessen hatte.
»Etwas zu trinken?«, fragte Mrs. Dixon.
»Ja, bitte.«
Auf dem Couchtisch lag eine weiße Tischdecke. Er war wie für einen kleinen Empfang gedeckt. Mrs. Dixon schenkte Tee in alte Porzellantassen. »Milch oder Zitrone?«
»Milch, danke.«
Ein wahres Ritual entfaltete sich, als ob er ein Vikar oder Gutsherr wäre. Sie bot Nick Zucker, einen Löffel von der Isle of Man und einen Keks mit Marmeladenfüllung von einer Etagere an.
»Ihre Mutter war meine Freundin«, sagte sie stolz. »Die Stadt hat sie mir geschickt, als ich einsam wurde.«
»Die Stadt« hatte ihr offenbar mitgeteilt, dass sie tot war.
Die Färbung ihrer Sprache ließ erkennen, dass sie nicht aus London stammte. Sie hatte sich zwar abgeschliffen, war aber immer noch unverkennbar nordenglisch. Bevor Nick etwas zu sagen einfiel, erzählte Mrs. Dixon schon weiter.
»Sie kam jede Woche freitags, und wir haben uns unterhalten … meistens über mich und meine Familie.« Geziert hob Mrs. Dixon ihre Tasse. »Sie stellte so viele Fragen, aber mir tat es gut, mir das von der Seele zu reden. Es ist nicht gut, alles in sich hineinzufressen, sage ich immer.«
»Völlig richtig.«
»Sie sind Arzt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Das haben Sie gut gemacht«, rief sie aus.
Nick nippte an seinem Tee und überlegte, wie lange er aus Höflichkeit noch bleiben müsste. Aber Mrs. Dixon hatte Zutrauen zu ihm gefasst. Ihre Freude hatte etwas Raubgieriges.
»Noch einen Keks?« Sie deutete auf die Etagere.
»Danke.«
Mrs. Dixon lehnte sich im Sessel zurück und stützte die Untertasse mit der Teetasse mitten auf ihrer Brust ab. Über den Tassenrand hinweg sagte sie: »Ich habe ihr so viel von mir erzählt, aber nie nach ihr gefragt … Hätten Sie was dagegen, mir ein bisschen zu erzählen?«
»Was möchten Sie denn wissen?«, fragte Nick.
»Na ja … eigentlich alles. Etwas darüber, woher sie kam … was ich ihr eben so erzählt habe.«
Nick kapitulierte vor den Umständen, wie seine Mutter es wohl getan hatte, als sie merkte, worauf sie sich eingelassen hatte. Mrs. Dixons Frage war jedoch so allgemein, dass er nicht wusste, wo er anfangen sollte. Doch dann fiel ihm das Foto ein.
»Wir haben ein Familienfoto zu Hause«, sagte er nachdenklich. »Es zeigt meine Mutter als Kind mit ihren Eltern.«
Das Bild stand in St. John’s Wood im Wohnzimmer. Als Junge hatte Nick sich die sepiafarbenen Gesichter des ernsten Mannes und seiner stolzen, drallen Frau angeschaut. Der Förmlichkeit ihrer Zeit gehorchend, lächelten sie nicht, sondern standen steif, aber zufrieden da. Er hatte einen Klappenkragen umgebunden, sie war in ein gepunktetes Kleid gezwängt. In der Mitte saß Elizabeth mit Schleifen in ihrem langen, straff zurückgekämmten Haar. Eine liebevolle Hand ihres Vaters hatte sich auf ihr Knie verirrt, ohne dass der Fotograf es bemerkt hatte. Im Hintergrund standen eine Uhr und ein großer Schrank. Elizabeth erzählte immer, dieses eine Foto habe mit einem einzigen Blitzlicht ihr gesamtes Selbstverständnis eingefangen – woher sie kam, was aus ihr geworden sei, ihre Veranlagungen und ihre Herkunft. Es war ihre Art gewesen, Nick zu erklären, wieso sie sich ihm gegenüber reservierter verhielt, als er älter wurde; und wieso selbst in ihrem Lächeln eine gewisse Melancholie lag. Als Teenager hatte ihn ihre Ruhe, ihr mangelnder Schwung manchmal geärgert, und da er ein Teenager war, hatte er ihr das auch gesagt. Heute machte es ihn traurig, dass er ihr das je hatte vorwerfen können, obwohl diese spröde Familie auf dem Foto doch eine solche Tragödie ereilt hatte.
Nick erzählte Mrs. Dixon von den Ereignissen, die sämtliche Erwartungen seiner Mutter zunichte gemacht hatten, bevor sie fünfzehn war. Dass ihr Vater plötzlich vor ihren Augen gestorben
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