Patient Null
sturzbetrunkener Kapitän vergeblich in der Luft herumfuchtelte. Das Boot schlug mit voller Wucht direkt auf die Hafenanlage auf. Die Tanks an Bord widerstanden dem Aufprall nicht, und ihr Inhalt entzündete sich in Sekundenschnelle. Es gab ein tiefes Aufheulen, das letzte Lebenszeichen
des Motors, was an das Brüllen eines Drachens erinnerte. Flammen stiegen aus dem Boot empor, um das schreckliche Schauspiel in Orange und Rot zu untermalen.
Für Augenzeugen war es noch zu früh am Morgen. Aber es dauerte nicht lange, ehe Leute, die im Tangier Sound vor Anker lagen und auf ihren Booten übernachtet hatten, entweder das Handy zückten oder über UKW-Radio die Notkräfte alarmierten. Kurz darauf ertönten Feuerwehr- und Krankenwagensirenen, während sich die Fahrzeuge rasch dem Unfallort näherten.
Simon Walford hatte wie vorhergesehen Schicht und befand sich in seinem Wachhäuschen. Er las einen David-Morrell-Roman und trank Kaffee, als das Boot einschlug. Vor Schreck verschüttete er die halbe Tasse über seine Uniform und fluchte, ehe er zum Funkgerät griff, um seinem Vorgesetzten den Vorfall zu melden. Keine Antwort. Es war jetzt schon zwei Tage her, dass Walford mit jemanden in der Fabrik gesprochen hatte, und seit zwei Wochen hatte er niemanden mehr gesehen. Die Autos standen noch auf dem Parkplatz. Das alles machte keinen Sinn. Er griff also nach seinem Walkie-Talkie und rannte aus seiner Hütte über den Parkplatz hinweg zu den Hafenanlagen. Sobald er die Flammen sah, wusste er, dass es keine Überlebenden geben würde. Außerdem konnte er nicht viel näher an den Unglücksort heran, weil es glühend heiß war. Durch zusammengekniffene Augen konnte er eine schwarze, über das Steuer gebeugte Gestalt erkennen. Der Körper stand in Flammen, die Gliedmaßen waren steif und unbeweglich wie die eine Schaufensterpuppe.
»Gütiger Himmel!«, stöhnte Walford. Er wollte die Polizei und die Feuerwehr benachrichtigen. Doch ehe er noch das Handy gezückt hatte, konnte er bereits die Sirenen in der Ferne hören. Er stand unter Schock, sonst wäre ihm vielleicht aufgefallen, wie schnell die freiwillige Feuerwehr
einsatzbereit gewesen war – besonders um diese Zeit, mitten in der Nacht. Aber im Augenblick war er sich nur seiner Hilflosigkeit bewusst. Erneut versuchte er, seinen Vorgesetzten zu kontaktieren, doch wieder meldete sich nur der Anrufbeantworter. Er hinterließ eine dringende, wenn auch etwas verwirrte Nachricht. Dann eilte er hinüber zum Zaun, um die Tore für die eintreffende Feuerwehr zu öffnen.
60
Crisfield, Maryland Mittwoch, 1. Juli / 02:54 Uhr
Gespannt saßen wir vor Dietrichs Laptop und sahen, wie das Boot explodierte.
»Genial«, murmelte Skip. Unser Auto stand einen guten Kilometer von der Krebsfabrik entfernt; die Lichter waren ausgeschaltet.
»Verdammt«, beschwerte sich Bunny. »Ich zerlaufe gleich in dieser Pelle.«
»Tja, das Leben ist hart«, bemerkte Top, der zwar genauso schwitzte wie wir, dem es aber irgendwie nichts auszumachen schien. Ich war mir ziemlich sicher, dass Top Sims nicht einmal die Miene verziehen würde, wenn er einen Pfeil in die Niere verpasst bekäme.
»Okay«, unterbrach Gus Dietrich meine Überlegungen. »Der erste Notruf ist eingetroffen.«
»Dann werfen Sie die Maschine an«, befahl ich. Der Fahrer schaltete Motor, Lichter und Sirenen ein und trat aufs Gaspedal.
So weit, so gut. Obwohl wir nicht viel Zeit hatten, unseren Plan genau zu durchdenken, lief bisher alles wie am Schnürchen. Einer von Churchs Leuten hatte eine Fernsteuerung in das Boot eingebaut, das beim Hochnehmen der Lagerhalle konfisziert worden war. Zwei Schaufensterpuppen
wurden aufgestellt und festgebunden, und Dietrich steuerte die Kiste recht elegant durch den Hafen. Er hatte für etwas Extraaufsehen gesorgt, indem er sie mit Karacho durch die vor Anker liegenden Boote düsen ließ. Jeder Zeuge würde auf der Stelle attestieren, dass es sich bei dem Bootsführer um einen volltrunkenen Idioten gehandelt haben musste. Das Boot war bis zum Anschlag mit Benzinkanistern und Tanks gefüllt. Kleine C4-Zünder, die Dietrich ebenfalls per Funk auslöste, erledigten den Rest. Natürlich war die Explosion viel zu heftig. Sie erinnerte eher an solche Aktionen, wie man sie aus Hollywood-Streifen kennt. Aber es war beeindruckend.
Kurz darauf wurden wir von den Sicherheitsbeamten hektisch durch die offenen Tore gewunken. Unser Fahrer lenkte nach links und fuhr auf den roten Wasserhydranten zu.
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