Patient Null
anzunehmen, dass ich es war.«
»Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich je an Ihnen gezweifelt habe, Ollie.«
Er hustete erneut. »So was kann vorkommen, Captain.« Er versuchte, den Kopf zu drehen. »Ich höre keine Schüsse mehr … Ist es vorbei?«
Ich horchte auf. Er hatte Recht. Aus dem Glockenraum drangen keine Laute mehr zu uns herüber. Ich wandte mich wieder Ollie zu, um ihn zu beruhigen, doch für ihn war es bereits vorbei. Seine Augen waren geöffnet, aber er blickte in eine andere Welt.
Hinter mir vernahm ich weitere Geräusche. Schnelle Schritte und Stimmen näherten sich. Es bedurfte meiner ganzen
Kraft, die Hand zu heben und aufzublicken, als mehrere Leute in den Raum stürmten. Bunny kam als Erster. Sein Gesicht war blutüberströmt, und er hatte die Pistole gezückt. Gus Dietrich war direkt hinter ihm. Und dann sah ich sie.
Grace.
Sie war am Leben. Alle waren am Leben.
»Joe«, rief sie und rannte auf mich zu. Ich zog sie zu mir auf den Boden.
»Wir haben es aufgehalten, Boss«, erklärte Bunny, der sich über Top beugte und ihn besorgt betrachtete.
Grace umarmte mich, während ich weiterhin Ollies Hand hielt – die Hand eines Mannes, dem ich nicht vertraut, dem ich Unrecht angetan hatte. Und ich begann um uns alle zu weinen.
125
Liberty Bell Center Samstag, 4. Juli / 12:28 Uhr
Unzählige Secret-Service-Agenten stürmten ins Liberty Bell Center. Sie trugen Schutzanzüge und durchsuchten das Gebäude, bis sie die First Lady fanden, die sie durch eine Hintertür hinausbrachten. Dann kamen die Sanitäter. Bunny blieb noch bei uns, dem toten El Mudschahid und Ollie. Top Sims wurde versorgt und mit Kompressionsbinden verbunden, ehe ihn die Sanitäter auf eine Bahre legten. Bunny passte genau auf, dass sie keinen Fehler machten oder Top wehtaten. Dann folgte er ihnen aus dem Raum und überschüttete sie mit Ratschlägen, wie sie ihren Job besser machen konnten. Sie waren vermutlich froh, dass ihre Schutzanzüge auch ihre Gesichter verbargen.
Später erfuhr ich, dass Skip Tyler sechzehn gebrochene Knochen und eine geplatzte Leber hatte. Dazu kamen noch
die Bleistifte, die ihm Top in die Niere gerammt hatte. Die beiden hatten sich wild geprügelt, aber es tat mir nicht leid, den Kampf verpasst zu haben. Ich hatte vorerst genügend Gewalt gesehen. Vielleicht sogar für den Rest meines Lebens. Selbst der Krieger, der stets in meinem Unterbewusstsein schlummerte, hatte es mehr als satt.
Ollie Brown und die anderen toten Secret-Service-Agenten wurden in schwarze Leichensäcke gepackt, während Skip und El Mudschahid vorerst liegen blieben. Die Forensiker wollten erst Aufnahmen machen und die Spuren sicherstellen. Meinetwegen konnten sie die beiden dort für immer liegen und langsam vor sich hin verwesen lassen. Jeder Sanitäter, der an uns vorbeikam, hielt inne und starrte auf El Mudschahids Überreste, ehe er dann den Blick auf mich richtete. Alle hielten gebührenden Abstand.
Grace blieb neben mir und ließ eine Hand auf meiner Schulter, als auch ich verarztet wurde. Als wir wieder allein war, fragte ich: »Und? Wie schlimm ist es?«
Sie zögerte. »Schlimm.«
Ich nahm ihre Hand. Ihre Finger fühlten sich eiskalt an.
»Rudy?«, fragte ich, auch wenn ich vor der Antwort Angst hatte.
Sie nickte. »Es geht ihm gut.«
Als ich in der Lage war, aufzustehen, gingen wir in den Glockenraum. Brierly kam auf uns zugeeilt. »Man hat mir berichtet, dass Sie und Ihr Mann die First Lady gerettet haben.«
»Meine Männer«, korrigierte ich. »First Sergeant Bradley Sims und Lieutenant Oliver Brown waren auch mit von der Partie. Sie haben beide dazu beigetragen, und Ollie hat mit seinem Leben bezahlt. Ich möchte, dass Sie das wissen.«
Brierly nickte. »Vielen Dank, Captain. Er war ein guter Mann.«
»Ja«, erwiderte ich. »Das war er.«
Wir gaben uns die Hand. Dann bat er Grace, ihm für ein Konferenzgespräch mit Church zu folgen. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie zu mir.
»Ich schulde dir noch einen Drink.«
»Ja«, sagte sie und lächelte mich traurig an. »Und wie du das tust.«
Die Menge hatte sich inzwischen aufgelöst. Die Opfer lagen in mehreren Reihen nebeneinander. Männer in weißen Plastikanzügen bedeckten sie gerade mit Planen und suchten nach Papieren oder sonstigen Dingen, um sie zu identifizieren. Man hatte in der Zwischenzeit sämtliche Fenster mit blauem Plastik bedeckt. Die ganze Independence Mall war evakuiert worden, und in der Stadt herrschte Ausnahmezustand. Die
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