Patient Null
retten«, meinte ich. Rudy schloss die Augen, öffnete sie wieder und stand auf. Für einen Moment musterte er mich aufmerksam.
»Und wie steht es mit dir, Cowboy? Hast du dein Limit erreicht?«
Als ich ihm eine Antwort schuldig blieb, seufzte er und nickte. Er klopfte mir auf die Schulter und ging dann zu einer Gruppe Agenten. Ich blickte ihm nach und konnte genau sehen, wie er sich von meinem Freund in Dr. Rudy Sanchez verwandelte. Er wurde größer und kräftiger. Er wurde zu einem Fels für alle, die sich an etwas festhalten mussten. Doch ich kannte die Wahrheit. Auch er war gezeichnet und würde wie der Rest von uns das, was heute passiert war, für immer mit sich herumtragen.
Und wie ging es mir? Der Schock ließ allmählich nach. Während das Adrenalin wieder aus meinem Blutkreislauf gespült wurde, nahm auch die tiefe Trauer und das Entsetzen in mir ab. In der hintersten Ecke meines Selbst machte sich der Krieger schon wieder bereit und schärfte seine Klinge. Ich wusste es. Ich konnte es spüren.
Ich musterte die Agenten, die alle so jung und betroffen aussahen. Nur ein Einziger erwiderte meinen Blick. Er war Ende zwanzig, nicht viel jünger als ich, aber seine Augen wirkten viel älter als sein Gesicht. Seine Miene zeigte weniger Schock als die der anderen. Er musterte mein Gesicht und ich das seine. Wir nickten kaum merklich. Niemandem fiel es auf, oder wenn doch, dann verstanden sie es nicht. Sie waren nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt wie wir. Der junge Agent wandte sich wieder seiner Gruppe und Rudy zu, aber ich war mir sicher, dass er das Erlebte selbst verarbeiten würde. So wie ich. So wie Krieger es tun. Er und ich würden nicht durch unsere Erlebnisse gezeichnet werden. Wir waren schon so auf die Welt gekommen.
EPILOG
1.
Insgesamt starben neunundneunzig Menschen im Liberty Bell Center, zu denen vierzehn Kongressabgeordnete zählten. Selbstverständlich war es der offiziellen Version nach ein Attentat von Terroristen gewesen, und genauso selbstverständlich war, dass keine apokalyptische Plage erwähnt wurde. Stattdessen wurde von einem »Nervengas« gesprochen, das seine Opfer gewalttätig werden ließ.
Die anfängliche Live-Übertragung, die über das ganze Land ausgestrahlt worden war, bedeutete einen absoluten PR-Alptraum. Doch obwohl es Augenzeugenberichte gab, die behaupteten, dass Secret-Service-Agenten auf unbewaffnete Zivilisten geschossen hätten, war es dem Präsidenten gelungen, zwei Dutzend namhafte Wissenschaftler aus dem Hut zu zaubern, die etwas von psychotischen Reaktionen erzählten. Niemand, der in den Kampf im Liberty Bell Center involviert gewesen war, wurde für seine Taten verantwortlich gemacht. Das Ganze wurde vielmehr einer Person zur Last gelegt – und zwar El Mudschahid und seinem Netzwerk brutaler Terroristen. Es war geradezu ideal, denn so konnten die Wut und das Entsetzen der Öffentlichkeit perfekt gelenkt werden. Nach seinem Tod war er noch verhasster als Osama bin Laden. Dem Secret-Service wurde seine Gefangennahme und Tötung zugeschrieben. Medaillen durften natürlich auch nicht fehlen, aber das DMS wurde nie erwähnt. Außerdem wurde der 31. Juli zum Nationaltrauertag erklärt.
Es gab keine weiteren Versuche, die Freedom Bell neu zu gießen. Als DMS-Agenten die Wohnung von Andrea Lester durchsuchten, fanden sie E-Mails und Briefe, die sie mit Ahmed Mahoud – einem Terroristen, dessen Körper im Liberty Bell Center sichergestellt wurde – in Verbindung brachten. Er war infiziert gewesen und wurde von Rudy mit der zerbrochenen Fahnenstange außer Gefecht gesetzt. Die Geschichte wäre natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien gewesen, wurde aber aus den Zeitungen herausgehalten.
Mahoud wurde später als der Schwager von El Mudschahid identifiziert, und man fand heraus, dass Lester und Mahoud ein Liebespaar gewesen waren. Andrea war schon drei Jahre zuvor heimlich zum Islam übergetreten, ehe sie den Auftrag erhalten hatte, die Freedom Bell neu zu gießen. Church vermutete, dass es dieser Auftrag gewesen war, der die verhängnisvollen Ereignisse des 4. Juli auslöste. Es war wahrscheinlich, aber belegen konnten wir es nicht mehr.
Director Brierly leitete eine Suche nach Robert Howell Lee ein. Er wurde schließlich zu Hause in seinem Schlafzimmer gefunden. Nachdem ich mit ihm telefoniert hatte, war er vom Liberty Bell Center nach Hause gefahren, hatte die Schlaftabletten seiner Frau aus dem Medizinschrank geholt, einen Abschiedsbrief
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