Patient Null
Kontoauszüge, Steuererklärungen, Schulzeugnisse, seine gesamten Akten von der Armee und Kopien von allen Schriftsachen, die es über ihn bei der Baltimore Police gab. Und obwohl sie alles durchgearbeitet hatte, war sie doch noch immer nicht schlauer geworden. Es gab so viele Indizien, dass Ledger ideal für das DMS war – quasi wie ein Sechser im Lotto. Gleichzeitig stand diese Ansicht diametral zu Graces Meinung über ihn, die
seine Aufnahme wohl eher als einen Griff ins Klo bezeichnet hätte. Aber wie wollte sie angesichts dieser glorreichen Berichte noch an ihrem Standpunkt festhalten?
Wenn es da nicht diese erdrückenden Beweise im Abgabeprotokoll der Taskforce gegeben hätte …
Sie hatte gerade seine militärischen Unterlagen durchforstet. In jeder Trainingseinheit hatte er ausgezeichnete Noten gehabt: im Nahkampf, bei der Spionage und Gegenspionage, im Landkrieg und bei jedem nur erdenklichen Manöver. Zudem gab es unzählige Empfehlungsschreiben für die Offiziersschule, wenn auch jedem Ledgers Ablehnung beigelegt war. Die handgeschriebene Notiz eines gewissen Colonel Aaron Greenberg, dem befehlshabenden Offizier in Fort Bragg, lautete: »Staff Sergeant Ledger hofft, dass seine Ausbildung in der Armee ihm dazu verhelfen wird, seine Karriere bei den Vollzugsbehörden in seiner Heimatstadt Baltimore, MD, zu fördern. Ich gab ihm zu verstehen, dass sein Eintritt ein echtes Plus für Baltimore PD darstellen würde, aber einen ebenso großen Verlust für die Armee.«
Es war ein erstaunlicher Brief, doch Grace zog es vor, ihn als einen Beweis fehlenden Ehrgeizes zu interpretieren. Was sie wirklich aufmerksam werden ließ, war jedoch die Niederschrift eines Interviews mit Ledgers Company Commander, einem gewissen Captain Michael S. Costas. Nachdem die Lagerhalle hochgenommen worden war, hatte Church seine Agenten zu Costas geschickt, um diesen unter Eid und strenger Geheimhaltungspflicht zu befragen. Costas hielt sich nicht zurück und überschüttete Ledger mit Lobeshymnen. Eine Passage musste es Church besonders angetan haben, denn sie war gelb markiert:
DMS: Captain Costas, sind Sie in Ihrer Position als Joe Ledgers Vorgesetzter der Meinung, dass er ein verlässlicher Mann ist?
COSTAS: Verlässlich? Das ist eine merkwürdige Frage. Wie meinen Sie das – verlässlich?
DMS: Falls er zum Beispiel Mitglied einer speziellen militärischen Einheit werden würde?
COSTAS: Ach, Sie meinen Homeland? So etwas in der Art?
DMS: So etwas Ähnliches – ja.
COSTAS: Lassen Sie mich es so sagen: Ich bin seit meinem achtzehnten Lebensjahr in der Armee; mit zwanzig wurde ich zum Ranger befördert. Ich war bei Mog und der Operation Desert Storm dabei. Ich habe umfassende Erfahrung in der Ranger-Schule gemacht und gelernt, meiner Menschenkenntnis zu trauen. Ich glaube, ich weiß, wer das Zeug dazu hat, weit zu kommen, und wer es nicht schaffen wird.
DMS: Und was meinen Sie? Ist Ledger einer von denjenigen, die das Zeug dazu haben?
COSTAS: Verdammt, ich hatte schon von ihm gehört, ehe er zur Ranger-Schule abkommandiert wurde. Was ich bei Joe während seiner Zeit in meiner Kompanie erleben durfte, war nicht nur ganz gut, ich wusste, dass er einmalig werden würde. Nicht nur gut, sondern wirklich außergewöhnlich. So etwas sieht man nicht oft, es sei denn, man hat viele Kampfeinsätze hinter sich. Und Sie können es mir glauben: Aus diesem Joe Ledger wird eines Tages ein echter Held werden.
DMS: Ein Held?
COSTAS: Ja, ein Held. Wenn Sie ihn inspirieren können, wenn Sie es schaffen, ihn zu packen und ihm mit etwas zu kommen, woran er glaubt … Dann wird er Ihnen verdammt nochmal Dinge zeigen, die Sie nie zuvor bei einem Soldaten erlebt haben. Das garantiere ich Ihnen.
»Held … Soll das ein Scherz sein?«, murmelte Grace spöttisch. Dieser Costas kam ihr ziemlich überschwänglich vor. Je länger sie sich jedoch mit Ledgers Leben auseinandersetzte,
desto beeindruckter war auch sie. Das ließ sich nicht leugnen. Sie las die Abschrift erneut durch und knallte dann die Akte auf den Schreibtisch. »So ein Schwachsinn!«
Ledger war ein guter Kämpfer, daran gab es nichts zu zweifeln. Aber konnte es sich das DMS leisten, das sowieso schon an genügend Fronten kämpfte, einen solchen Mann aufzunehmen? Die Soldatin in ihr wollte nichts mit ihm zu tun haben. Die Frau in ihr aber war sich da nicht ganz so sicher. Sie blickte auf den Küchenmonitor und sah, wie er vor dem Rechner saß und auf die Tastatur
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