Patterson James
lassen wollte. Sie und Ben gingen gegen zehn Uhr
nach Hause. Die Alarmanlage war eingeschaltet, nachdem die
Haushälterin bereits Feierabend gemacht hatte. Miriam verriegelte die Tür und ging nach oben.
Sie wusste, dass sie Ben von dem heutigen Tag erzählen sollte.
Aber es war dumm, und sie wollte nicht wie ein dummer
Mensch dastehen. Sie hatte schon hundert Prozesse geführt. Sie
hatte eine Menge unverschämter Verbrecher gesehen, die
dachten, sie wären die Größten. Warum sollte der hier anders
ein? War er nicht! Zum Teufel mit ihm.
Ben verschwand in seinen begehbaren Schrank, um sich
auszuziehen, anschließend ins Bad. Miriam hörte, wie er sich
die Zähne putzte. Sie ging hinüber zu ihrem Bett und zog die
Decke zurück.
Miriam Seiderman hatte das Gefühl, ihr Herz würde stehen
bleiben.
»Ben! Ben, komm her, schnell! Ben!«
Ihr Mann kam mit der Zahnbürste in der Hand aus dem Bad
gerannt. »Was ist los?«
Unter der Decke lag eine Zeitung, aufgeschlagen auf Seite
zwei. Die Überschrift: TÖTENDE BLICKE IM GERICHTSSAAL.
Sie blickte auf Dominic Cavello. Das Bild eines Gerichtszeichners, auf dem genau der Moment im Gerichtssaal
eingefangen war, der sie den ganzen Abend über bedrückt hatte.
Dieser Blick.
Sie drehte sich zu Ben. »Hast du die hierher gelegt?«, fragte
sie ihn.
Ihr Mann schüttelte den Kopf und nahm die Zeitung. »Nein,
natürlich nicht.«
Miriam Seiderman lief es eiskalt den Rücken hinab. Das Haus
war abgeschlossen und die Alarmanlage eingeschaltet gewesen.
Ihre Haushälterin, Edith, war um vier Uhr gegangen.
Was war hier los? Das hier war die Abendzeitung.
Jemand war am Abend ins Haus eingebrochen!
Etwa zur selben Zeit las Nordeschenko in einem schwach
beleuchteten albanischen Café in Astoria, Queens, ebenfalls die
Zeitung.
Ein paar Gäste saßen an der Bar. Aus ihrem Heimatland wurde
ein Fußballspiel per Satellit übertragen, und die Jungs an der Bar
tranken und grölten und riefen hin und wieder dem Fernseher
etwas in ihrer Sprache zu.
Die Cafétür wurde geöffnet, und zwei Männer traten ein. Einer
war groß, hatte eiskalte, blaue Augen. Blonde Locken hingen bis
zu den Schultern seiner schwarzen Lederjacke. Der andere war
klein und dunkel, wirkte wie jemand aus dem Nahen Osten. Er
trug eine grüne Militärjacke und eine Tarnfleckhose. Die beiden
Männer setzten sich an den Tisch neben dem von Nordeschenko, der kein einziges Mal den Kopf hob.
»Schön, dich zu sehen, Remi.«
Nordeschenko lächelte. Remi war sein russischer Spitzname.
Damals in der Armee, in Tschetschenien. Eine Abwandlung von
Remlikov, seinem echten Namen. Nordeschenko hatte ihn seit
fünfzehn Jahren nicht mehr verwendet.
»Sieh mal an, was der Wind uns gebracht hat.« Nordeschenko
faltete seine Zeitung zusammen. »Oder vielmehr der Müllwagen.«
»Immer zu einem Kompliment aufgelegt, Remi.«
Reichardt, der Blonde mit der Narbe unter dem rechten Auge,
war Südafrikaner. Nordeschenko hatte schon oft mit ihm
zusammengearbeitet. Er war fünfzehn Jahre lang Söldner in
Westafrika gewesen und kannte sich in seinem Beruf bestens
aus. Er war bereits in einem Alter in der Lage gewesen, einem
Menschen schreckliche Schmerzen zuzufügen, als die meisten
Jungs noch Grammatik und Rechnen lernten.
Nezzi, den Syrer, hatte er während seiner Zeit in Tschetschenien kennen gelernt. Nezzi war an einem Terrorüberfall gegen
die Russen beteiligt gewesen, bei dem viele Schulkinder getötet
worden waren. Nezzi hatte Gebäude in die Luft gesprengt und
russische Gesandte erschossen. Er beherrschte das ganze
Repertoire. Er wusste, wie man eine Bombe aus Materialien
baute, die man in jedem Laden kaufen konnte. Nezzi kannte
keine Skrupel und keine Ideologien. Im Zeitalter des Fanatismus
gehörte er zu einer aussterbenden Rasse. Irgendwie erfrischend.
»Sag mal, Remi«, der Südafrikaner drehte sich auf seinem
Stuhl, »du hast uns doch nicht hierher gelockt, damit wir uns
albanischen Fußball ansehen?«
»Nein.« Nordeschenko warf die Zeitung mit der Zeichnung
aus dem Gerichtssaal auf ihren Tisch. Es war eine Ausgabe
derselben Zeitung, die er vor wenigen Stunden der Richterin ins
Bett gelegt hatte.
»Cavello.« Nezzi zog die Augenbrauen zusammen. »Er steht
doch vor Gericht, oder? Du willst, dass wir für ihn einen Auftrag
erledigen, während er im Gefängnis ist? Das ließe sich einrichten, nehme ich an.«
»Trinkt ruhig was«, lud Nordeschenko sie ein und winkte der
Kellnerin.
»Ich trinke hinterher was«, lehnte der Südafrikaner ab.
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