Patterson James
Gefühl, nicht hierher zu gehören. Einige haben
vielleicht sogar Angst. Aber eins müssen Sie sich vor Augen
halten: Wenn Sie gewählt werden, ist es Ihre gesetzliche und
moralische Pflicht, an der Verhandlung teilzunehmen. Zwölf
von Ihnen werden als Geschworene dienen – und sechs weitere
als Ersatz. Meine Pflicht hingegen ist es, Ihnen die Angst und
das Unbehagen angesichts des letzten Prozesses des Angeklagten zu nehmen.
Aus diesem Grund werden Ihre Namen und Adressen sowie
Informationen über Ihre Familie oder Ihre Tätigkeit nicht
bekannt gegeben – nicht einmal den Mitgliedern dieses Gerichts.
Die gewählten Geschworenen werden die nächsten sechs bis
acht Wochen in der Militärbasis Fort Dix in New Jersey, wo der
Prozess stattfindet, eingesperrt.
Ich weiß, niemand ist scharf darauf, sein Leben hinter sich zu
lassen und so lange Zeit von Familie und Freunden getrennt zu
sein. Aber der Angeklagte muss vor Gericht gestellt werden –
das ist unsere einzige Pflicht. Es wird eine Jury ausgewählt, und
er wird vor Gericht gestellt. Wer sich weigert, seine oder ihre
Pflicht zu erfüllen, wird wegen Missachtung des Gerichts
belangt.«
Der Richter nickte seinem Gerichtsdiener zu. »So, gibt es hier
jemanden im Gerichtssaal, der oder die meint, aufgrund besonderer Umstände oder einer Behinderung nicht seine Pflicht
erfüllen zu können?«
Praktisch alle Hände schnellten gleichzeitig in die Höhe.
Fast alle anderen Anwesenden mussten ein Lachen unterdrücken. Selbst Cavello lächelte.
Die Geschworenen wurden der Reihe nach an den Richtertisch
gerufen. Alleinerziehende Mütter. Inhaber von kleinen Unternehmen. Leute, die anführten, schon ihren Urlaub bezahlt zu
haben, oder ein ärztliches Attest vorlegen konnten. Ein paar
Anwälte, die behaupteten, sie müssten per se freigestellt werden.
Doch Richter Barnett blieb hart. Ein paar ließ er gehen, die
diskret die Fäuste ballend oder breit grinsend den Gerichtssaal
verließen. Andere kehrten bedrückt auf ihre Plätze zurück.
Schließlich blieben noch einhundertfünfzig Personen, von
denen keiner sehr erfreut aussah.
Cavello würdigte sie keines Blickes. Er trommelte, stur geradeaus starrend, mit den Fingern auf dem Tisch. Ständig musste
ich an die Worte denken, die er mir am Tag, als der Geschworenenbus in die Luft geflogen war, aus seiner Gefängniszelle
hinterher gerufen hatte.
»Ich werde heute Nacht schlafen wie ein Baby … Zum ersten
Mal seit einem Monat brauche ich mir wegen dieser dämlichen
Verhandlung keine Sorgen zu machen.«
»Mr. Goldenberger, Mr. Kaskel«, sprach der Richter die
beiden Anwälte an. »Ich bin sicher, Sie möchten diesen tapferen
Menschen ein paar Fragen stellen.«
64
Richard Nordeschenko war unbemerkt ins Gericht gelangt. Es
war nicht schwierig gewesen, von Reichardt eine Standardbenachrichtigung für Geschworene zu bekommen und Datum und
Namen an seine Bedürfnisse anzupassen. Mit diesem Schreiben
hatte er sich in die Reihe der mürrisch aussehenden Geschworenen gestellt und, als wäre es die normalste Sache der Welt, das
Gericht durch den Vordereingang betreten.
Eine Zeit lang saß er in dem überfüllten Geschworenenzimmer, wo er eine Zeitschrift durchblätterte und auf die Nummern
lauschte, die aufgerufen wurden. Viele der Anwesenden
plapperten nervös über Was-wäre-wenn-Szenarien – wenn sie
für Cavellos Prozess ausgewählt wurden. Alle glaubten, sie
hätten eine idiotensichere Entschuldigung.
Nordeschenko kicherte leise in sich hinein. Niemand von
ihnen würde eine Entschuldigung brauchen.
Um Viertel nach zehn blickte er auf seine Uhr. Nezzi würde
mit dem gestohlenen Cateringwagen in die Tiefgarage fahren.
Was solche Dinge anging, gab es keinen Besseren als Nezzi.
Doch man wusste nie, was bei einem solchen Auftrag alles
schiefgehen konnte, besonders wenn er so komplex war wie
dieser.
Am Abend zuvor hatte Nordeschenko einen langen Brief an
seine Frau und seinen Sohn geschrieben. Er hatte ihn in seinem
Hotelzimmer liegen lassen, falls er nicht mehr dorthin zurückkehrte.
Im Brief hatte er zugegeben, nicht unbedingt der gute Mensch
zu sein, für den sie ihn immer hielten, und dass die Dinge, die
ihnen über ihn zu Ohren kommen konnten, möglicherweise
stimmten. Er hatte geschrieben, es habe ihn traurig gemacht, in
all den Jahren so viel vor ihnen geheim halten zu müssen. Doch
keiner sei in seinem Leben nur gut oder nur schlecht. Das Gute
in seinem Leben seien seine Frau und
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