Patterson, James - Alex Cross 02 - Denn Zum Küssen Sind Sie Da
anschaute, wurde ich wieder an Casanova erinnert.
Eins mußte man ihm lassen: Er verstand etwas von der Schönheit und vom Charakter einer Frau. Da war er fast perfekt.
58. Kapitel
Der Harem bewegte sich vorsichtig auf ein großes Wohnzimmer zu, am Ende eines gewundenen Gangs in dem geheimnisvollen, widerlichen Haus. Es hatte zwei Stockwerke. Unten war nur ein Zimmer. Oben waren es zehn.
Naomi Cross ging wachsam mit den anderen mit. Sie waren in den Gemeinschaftsraum gerufen worden. Seit sie hier war, hatte die Zahl der Gefangenen zwischen sechs und acht geschwankt. Manchmal ging eine Frau oder verschwand, aber es schien immer eine neue da zu sein, die ihren Platz einnahm. Casanova wartete im Wohnzimmer auf sie. Er trug wieder eine andere Maske. Sie war handbemalt, mit weißen und leuchtendgrünen Streifen. Festlich. Ein Partygesicht. Er trug ein goldenes Seidengewand und war darunter nackt.
Das Zimmer war groß und geschmackvoll möbliert. Auf dem Boden lag ein Orientteppich. Die Wände waren eierschalenfarbig und frisch gestrichen.
»Kommt herein, kommt herein, Ladies. Seid nicht schüchtern. Geniert euch nicht«, sagte er von der gegenüberliegenden Seite des Zimmers aus. Er hielt eine Betäubungspistole und eine richtige Pistole in den Händen und stand in einer kühnen Pose da. Naomi stellte sich vor, daß er hinter der Maske lächelte. Mehr als alles andere wünschte sie sich, sein Gesicht zu sehen, nur einmal, und es dann für immer auszulöschen, in winzige Stücke zu zerbrechen, die Stücke zu zermahlen, bis nichts mehr davon übrig war. Naomi spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte, als sie das große, angenehme Wohnzimmer betrat. Ihre Geige lag auf einem Tisch neben Casanova. Er hatte ihre Geige geholt und an diesen scheußlichen Ort gebracht.
Casanova stolzierte in dem Zimmer mit der niedrigen Decke herum wie der Gastgeber eines eleganten Kostümfestes. Er konnte Klasse haben, sogar galant sein. Er bewegte sich selbstbewußt.
Er zündete die Zigarette einer Frau mit einem goldenen Feuerzeug an. Er blieb bei jeder Frau stehen und sprach mit ihr. Er berührte eine nackte Schulter, eine Wange, streichelte das lange blonde Haar einer Frau.
Alle Frauen sahen umwerfend aus. Sie trugen die eigenen schönen Kleider und hatten sorgfältig Make-up aufgelegt. Der Duft ihrer Parfüms erfüllte das Zimmer. Wenn sie sich nur alle gleichzeitig auf ihn stürzen könnten, dachte Naomi bei sich. Es mußte eine Möglichkeit geben, Casanova zur Strecke zu bringen. »Wie etliche von euch vielleicht schon erraten haben«, er hob die Stimme, »gibt es zur Feier des Abends eine hübsche Überraschung. Ein Abendständchen.«
Er zeigte auf Naomi und winkte ihr, vorzutreten. Er war immer vorsichtig, wenn er sie alle zusammenholte. Er hatte die Pistole in der Hand, hielt sie lässig.
»Bitte, spiel etwas für uns«, sagte er zu Naomi. »Was du möchtest. Naomi spielt Geige, und wunderschön, wie ich hinzufügen sollte. Sei nicht schüchtern, Liebes.«
Naomi konnte den Blick nicht von Casanova wenden. Sein Gewand stand offen, damit sie seine Nacktheit sehen konnten. Manchmal mußte eine von ihnen ein Instrument spielen, singen, Gedichte vorlesen oder nur über ihr Leben vor der Hölle reden. Heute abend war Naomi an der Reihe.
Naomi wußte, daß ihr nichts anderes übrigblieb. Sie war entschlossen, tapfer zu sein, zuversichtlich auszusehen. Sie griff nach der Geige, ihrem kostbaren Instrument, und viele schmerzliche Erinnerungen gingen über sie hinweg. Tapfer… zuversichtlich… wiederholte sie im Kopf. Das hatte sie schon als kleines Mädchen getan.
Als junge Schwarze hatte sie die Kunst gelernt, sich gelassen zu geben. Jetzt brauchte sie alles, was sie an Fassung aufbringen konnte. »Ich versuche, Bachs Sonate Nummer eins zu spielen«, kündigte sie ruhig an. »Das Adagio, der erste Satz. Es ist wunderschön. Ich hoffe, ich werde ihm gerecht.«
Naomi schloß die Augen, als sie die Geige auf die Schulter nahm. Sie öffnete sie wieder, als sie das Kinn auf die Stütze legte und das Instrument langsam stimmte. Tapfer… zuversichtlich, rief sie sich ins Gedächtnis. Dann fing sie zu spielen an. Es war alles andere als vollkommen, aber es kam direkt aus ihrem Herzen. Naomi hatte immer einen persönlichen Stil gehabt. Sie konzentrierte sich mehr auf die Musik als auf ihre Technik. Sie hätte gern geweint, aber sie hielt die Tränen zurück, verbannte alles nach innen. Ihre Gefühle drückten sich nur in der Musik aus,
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