Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
Irre zur Rush-hour in der Penn zugeschlagen? fragte sich Manning Goldman. Er hatte bereits eine furchterregende Theorie, die er allerdings bis jetzt für sich behalten hatte.
»Manning, glauben Sie, daß er immer noch irgendwo hier ist?« fragte Groza hinter ihm.
Grozas Angewohnheit, Leute grundsätzlich beim Vornamen zu nennen, als ob sie alle Sozialarbeiter wären, raubte ihm wirklich den letzten Nerv. Goldman ignorierte seinen Partner. Nein, er war nicht der Ansicht, daß der Mörder noch in der Penn Station war. Das Scheusal war irgendwo in New York auf freiem Fuß, was ihm höllische Sorgen machte. Es drehte ihm den Magen um, was in letzter Zeit öfter vorkam, jedenfalls in den letzten beiden Jahren.
Zwei Verkäufer mit Handkarren blockierten geschäftstüchtig den Weg zum Tatort. Ein Karren war mit »Lederwaren aus Montego City« beschildert, der zweite mit »Liebesgrüße aus Moskau«. Er wünschte sich, daß die Gefährte nach Jamaika beziehungsweise nach Rußland zurückkehrten.
»Polizei! Machen Sie den Weg frei! Weg mit diesen Müllkarren!« schrie Goldman die Verkäufer an.
Er schob sich durch die Menge aus Gaffern, Polizisten und Bahnhofspersonal, die sich neben der Leiche eines Schwarzen mit Zöpfen und lumpiger Kleidung versammelt hatte. Blutbefleckte Exemplare der Street News lagen überall um die Leiche herum verstreut, so daß Goldman sofort wußte, welchem Beruf der Tote nachgegangen und warum er im Bahnhof gewesen war. Als er noch näher herankam, konnte er feststellen, daß das Opfer vermutlich Ende Zwanzig war. Die Blutmenge war ungewöhnlich groß. Zu groß. Eine große, leuchtendrote Lache umgab die Leiche.
Goldman trat zu einem Mann in einem dunkelblauen Anzug mit einer auffälligen Amtrak-Anstecknadel am Revers.
»Detective Goldman von der Mordkommission«, sagte er und zeigte seine Marke. »Die Gleise zehn und elf.« Goldman deutete dabei auf eine Anzeigetafel. »Welcher Zug ist auf diesen Gleisen kurz vor der Messerstecherei angekommen?«
Der Amtrak-Manager zog ein dickes Handbuch zu Rate, das er in der Tasche aufbewahrte.
»Der letzte Zug auf Gleis zehn … das war der Metroliner aus Philadelphia, Wilmington, Baltimore, Ausgangsbahnhof Washington.«
Goldman nickte. Es war genau das, was er befürchtet hatte, als er erfuhr, ein Mehrfachmörder habe im Bahnhof zugeschlagen und entkommen können. Diese Tatsache bedeutete, daß der Mörder einen klaren Kopf hatte. Er hatte einen ganz bestimmten Plan.
Goldman hatte den Verdacht, daß der Mörder in der Union Station mit dem in der Penn Station identisch sein könnte, das würde bedeuten, daß der Irre jetzt hier in New York war.
»Haben Sie schon eine Idee, Manning?« Groza plapperte schon wieder.
Schließlich sprach Goldman mit seinem Partner, ohne ihn anzusehen.
»Ja, ich mußte eben denken, daß es Ohrstöpsel gibt und Waschbeckenstöpsel, warum aber keine Mundstöpsel?«
Dann machte sich Manning Goldman auf den Weg zu einem Telefon. Er mußte in Washington, D.C. anrufen. Er vermutete, daß Gary Soneji nach New York gekommen war. Womöglich war er auf einer Killertour durch zwanzig oder dreißig Großstädte.
Heutzutage war alles möglich.
21.
Ich rief zurück, nachdem der Pieper sich gemeldet hatte. Es gab beunruhigende Neuigkeiten aus New York. Ein weiterer Anschlag war auf einem überfüllten Bahnhof verübt worden, was mich bis nach Mitternacht bei der Arbeit festhielt. Gary Soneji war vermutlich in New York City. Falls er nicht schon in die nächste Großstadt weitergereist war, die er sich zum Morden ausgesucht hatte. Boston? Chicago? Philadelphia?
Als ich endlich nach Hause kam, war bereits alles dunkel. Ich fand einen Rest Zitronensahnetorte im Kühlschrank und verputzte sie mit Heißhunger. Nana hatte einen Artikel über Oseola McCarty an die Kühlschanktür geklebt. Oseola war über fünfzig Jahre lang Wäscherin in Hattiesburg, Mississippi, gewesen, sie hatte 150 000 Dollar gespart und der University of Southern Mississippi gespendet. Präsident Clinton hatte sie nach Washington eingeladen und ihr die Bürgerschaftsmedaille des Präsidenten verliehen.
Die Torte war ausgezeichnet, aber ich brauchte etwas anderes, eine andere Form von Wohltat. Ich ging zu meinem Schamanen.
»Bist du wach, alte Frau?« flüsterte ich an Nanas Schlafzimmertür. Sie läßt sie immer einen Spalt offen für den Fall, daß die Kinder nachts mit ihr reden oder kuscheln möchten. Vierundzwanzig Stunden geöffnet, genau wie 7-Eleven,
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