Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
solche hübschen Einfälle. Sie mußte geahnt haben, daß ich es war. Ich rufe immer an, ganz gleich, was los ist.
»Wie geht’s dir, mein Liebes, du Licht meines Lebens?«
Schon allein durch den Klang ihrer Stimme fehlte sie mir, es fehlte mir, zu Hause bei meiner Familie zu sein.
»Sampson ist kurz vorbeigekommen, um nach uns zu sehen. Eigentlich wollten wir heute abend boxen. Weißt du noch, Daddy?« Jannie spielte ihre Rolle übertrieben, aber wirkungsvoll. »Bip, bip, bam. Bam, bam, bip«, sagte sie und zauberte durch die Vertonung ein lebhaftes Bild in meinem Kopf.
»Hast du trotzdem mit Damon trainiert?« fragte ich. Ich stellte mir ihr Gesicht vor, während wir miteinander sprachen. Und Damons Gesicht. Auch das von Nana. Die Küche, in der Jannie telefonierte. Mir fehlte das Abendessen mit meiner Familie.
»Klar haben wir trainiert. Ich habe ihn hinter der Deckung erwischt. Für heute ist er k.o. Aber ohne dich ist es nicht so gut. Niemand, vor dem man angeben kann.«
»Dann mußt du einfach vor dir selbst angeben«, riet ich ihr.
»Ich weiß, Daddy. Das habe ich auch gemacht. Ich habe mich aufgebaut und zu mir selbst gesagt: ›Tolle Vorstellung!‹«
Ich mußte laut lachen.
»Tut mir leid, daß ich die Boxstunde mit euch beiden Pitbullterriern verpaßt habe. Tut mir leid, leid, leid«, intonierte ich mit einer bluesigen Singsangstimme. »Tut mir leid, leid, leid.«»Das sagst du immer«, flüsterte Jannie, und ich hörte ihrer Stimme an, wie enttäuscht sie war. »Eines Tages funktioniert das nicht mehr. Merk dir meine Worte! Denk dran, wo du sie zum ersten Mal gehört hast. Denk dran, denk dran, denk dran.«
Ich nahm mir ihren Rat zu Herzen, während ich in dem einsamen Hotelzimmer in New York City einen beim Zimmerservice bestellten Hamburger aß und auf den Times Square hinausschaute. Mir fiel ein alter Psychiaterwitz ein: »Schizophrenie bewahrt einen immerhin davor, allein essen zu müssen.«
Ich dachte an meine Kinder und an Christine Johnson und dann an Soneji und Manning Goldman, der in seinem eigenen Haus ermordet worden war. Ich hatte mir Die Asche meiner Mutter eingepackt und versuchte, ein paar Seiten zu lesen. Doch in jener Nacht konnte ich mit der wunderbar geschriebenen Geschichte aus dem Ghetto von Limerick nichts anfangen.
Als ich glaubte, wieder einen klaren Kopf 211 haben, rief ich Christine an. Wir unterhielten uns fast eine Stunde lang, mühelos und unangestrengt. Etwas zwischen uns hatte sich verändert. Ich fragte sie, ob sie am folgenden Wochenende Zeit für mich habe und vielleicht nach New York kommen wolle, falls ich hierbleiben müßte. Der Vorschlag kostete mich Nerven, und ich fragte mich, ob sie das meiner Stimme wohl anhören konnte.
Christine überraschte mich abermals: Sie wollte gern nach New York kommen. Sie lachte und sagte, es sei zwar erst Juli, aber sie könne durchaus einige frühzeitige Weihnachtseinkäufe erledigen. Ich müsse ihr jedoch versprechen, mir etwas Zeit für sie zu nehmen.
Ich versprach es.
Schließlich mußte ich etwas geschlafen haben, denn ich wachte in einem fremden Bett auf, in einer noch fremderen Stadt, in die Laken gewickelt wie in eine Zwangsjacke.
Mir kam ein seltsamer, unbehaglicher Gedanke: Gary Soneji verfolgte mich . Nicht umgekehrt.
43.
Er war der Todesengel. Er hatte das seit seinem elften oder zwölften Lebensjahr gewußt. Damals hatte er einen Menschen umgebracht, einfach nur um herauszufinden, ob er das konnte. Die Polizei hatte die Leiche nicht gefunden. Bis heute nicht. Nur er wußte, wo die vielen Leichen begraben waren, und er würde es niemand verraten.
Plötzlich kehrte Gary Soneji in die Realität zurück, in die Gegenwart von New York City. Herrgott noch mal, er hatte in dieser Bar in der East Side vor sich hin gelacht und gekichert, vielleicht hatte er sogar Selbstgespräche geführt. Dem Barkeeper im Dowd & McGoey’s war schon aufgefallen, daß er mit sich selbst sprach, fast wie in Trance. Der verschlagen wirkende, rothaarige irische Schnösel tat, als poliere er Biergläser, aber er beobachtete ihn ständig aus dem Augenwinkel. Irischen Augen entging nichts. Soneji hatte den Barkeeper mit einem schüchternen Lächeln herangewunken.
»Keine Sorge, ich wollte nur abschalten. Ich habe mich ein bißchen gehenlassen. Was bin ich Ihnen schuldig, Michael?«
Der Name stand auf einem Schild an seinem Hemd. Die geheuchelte Entschuldigung wurde anscheinend akzeptiert, deshalb bezahlte Soneji und verließ die
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