Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
die Luft. Die Zuschauer hielten den Atem an, als das Kind nach vorn flog. Alle stöhnten hörbar, als ein Mann das Baby ungefähr fünf Meter entfernt auffing. Erst jetzt begann es zu weinen.
»Gary, nein!« rief ich Soneji zu. Doch er rannte bereits weiter.
»Sind Sie bereit zu sterben, Dr. Cross?« schrie er zurück. »Sind Sie bereit?«
61.
Soneji verschwand durch eine silberfarbene Metalltür am Ende des Bahnsteigs. Er war schnell und hatte zudem das Überraschungsmoment ausgenutzt. Schüsse knallten – Groza schoß –, aber ich glaubte nicht, daß Soneji getroffen worden war.
»Dahinten sind noch mehr Tunnel und jede Menge Gleise«, erklärte Groza hastig. »Wir betreten ein finsteres, schmutziges Labyrinth.«
»Mag sein, aber wir gehen trotzdem hinein«, sagte ich. »Gary gefällt es hier unten. Wir werden das Beste daraus machen müssen.«
Ich riß einem Bauarbeiter seine Taschenlampe aus der Hand und zog dann meine Glock. Siebzehn Schüsse. Groza hatte eine 357er Magnum, also weitere sechs Salven. Wie viele Schüsse waren nötig, um Gary Soneji zu töten? Würde er jemals sterben?
»Er trägt eine verfluchte schußsichere Weste«, sagte Groza.
»Ja, das habe ich bemerkt.« Ich entsicherte die Glock. »Er ist ein Pfadfinder – allzeit bereit.«
Ich öffnete die Tür, durch die Soneji verschwunden war, und plötzlich war es so finster wie in einem Grab. Ich hielt die Glock gerade vor mich und ging weiter. Das war tatsächlich der Keller schlechthin, seine Privathölle in Übergröße.
Sind Sie bereit zu sterben, Dr. Cross?
Es gibt keine Möglichkeit, das zu verhindern.
Ich duckte mich, schlich weiter, so gut ich konnte. Der Strahl der Taschenlampe zuckte über die Wände. Weiter vorn erkannte ich trübes Licht von eingestaubten Lampen, deshalb schaltete ich die Taschenlampe aus. Meine Lungen schmerzten. Ich konnte immer noch nicht richtig atmen, aber vielleicht wurde mein körperliches Unbehagen zum Teil auch durch Klaustrophobie und Entsetzen verursacht.
Mir gefiel es nicht in Garys Keller. So mußte er sich gefühlt haben, als er noch ein Junge gewesen war. Wollte er uns das mitteilen? Uns die Erfahrung vermitteln?
»Herrgott«, murmelte Groza in meinem Rücken.
Ich vermutete, daß er das gleiche empfand wie ich, desorientiert war und Angst hatte. Irgendwo im Tunnel heulte der Wind, und wir konnten nicht viel sehen. Im Dunkeln muß man seine Phantasie einsetzen, dachte ich, während ich weiterging. Soneji hatte dies als Junge zur Genüge gelernt. Hinter uns waren jetzt Stimmen, doch sie waren noch weit weg. Gespenstisch hallten sie von den Wänden wider. Niemand hatte es eilig, Soneji in dem finsteren, schmuddeligen Tunnel einzuholen.
Die Bremsen eines Zugs kreischten auf der anderen Seite der geschwärzten Steinwand. Hier unten, parallel zu uns, verlief die U-Bahn. Der Gestank nach Müll und Abfall wurde immer schlimmer, je weiter wir gingen. Ich wußte, daß in etlichen dieser Tunnel Stadtstreicher lebten. Bei der New Yorker Polizei gab es eine spezielle Obdachloseneinheit, die auf sie angesetzt war.
»Ist da was?« murmelte Groza mit Angst und Unsicherheit in der Stimme. »Sehen Sie was?«
»Nichts«, flüsterte ich.
Ich wollte nicht mehr Lärm als nötig machen. Ich holte abermals schmerzhaft tief Luft und hörte auf der anderen Seite der Wand das Pfeifen eines Zugschaffners.
In einigen Teilen des Tunnels herrschte trübes Licht. Müll übersäte den Boden, weggeworfene Fastfood-Verpackungen, zerfetzte, verschmutzte Kleidung. Ich hatte bereits zwei riesige Ratten gesehen, die an meinen Füßen vorbeihuschten.
Dann hörte ich direkt hinter mir einen Schrei. Mein Hals und mein Rücken versteiften sich vor Schreck. Es war Groza! Er ging zu Boden. Ich hatte keine Ahnung, womit er getroffen worden war. Er gab keinen weiteren Ton von sich und rührte sich nicht mehr.
Ich fuhr herum, konnte zunächst niemanden sehen. Die Finsternis schien sich sogar noch zu verdichten.
Doch dann erhaschte ich einen Blick auf Sonejis Gesicht: ein Auge, eine Mundhälfte im dunklen Profil. Er schlug mich, bevor ich auch nur die Glock heben konnte. Soneji stieß einen brutalen Urschrei hervor, unverständliche Wörter. Er schlug mich mit gewaltiger Wucht, ein Fausthieb gegen die linke Schläfe. Er erinnerte mich daran, wie unglaublich stark Soneji war und daß er den Verstand verloren hatte. In meinen Ohren rauschte es, und mir drehte sich alles im Kopf, meine Beine waren wacklig. Fast hätte er mich schon
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