Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
jähe Bewegung aus dem Augenwinkel. Er riß das Lenkrad herum, die Bremsen kreischten. Sein Bus scherte scharf nach rechts aus und blieb diagonal zur East Capitol Street stehen.
Der Bus gab ein lautes Zischen von sich. Gott sei Dank gab es keinerlei Gegenverkehr; so weit er sehen konnte, war bis auf eine grüne Lichterkette nichts zu sehen.
Matthew Lewis riß die Bustür auf und stieg aus. Er hoffte, er habe, wen oder was auch immer sich da auf die Straße geschleppt hatte, nicht angefahren.
Er war sich jedoch nicht sicher und fürchtete sich vor dem, was er vorfinden würde. Bis auf die Geräusche von der Kassette im Bus war es still. Sehr unheimlich, es war so schlimm, wie es nur kommen konnte, dachte er erschaudernd.
Dann sah er eine alte Schwarze auf der Straße liegen. Sie trug einen langen, blaugestreiften Bademantel. Der Mantel stand offen, und darunter war ihr rotes Nachthemd zu sehen. Ihre Füße waren nackt. Sein Herz machte einen erschrockenen Satz.
Er lief über die Straße, um ihr zu helfen, hatte das Gefühl, daß ihm gleich schlecht würde. Im Licht der Busscheinwerfer sah er, daß ihr Nachthemd keineswegs rot war. Es handelte sich um über den ganzen Körper verteiltes, leuchtendrotes Blut. Der Anblick war grausig und furchtbar. Nicht unbedingt das Schlimmste, was er in all den Jahren während der Nachtschicht erlebt hatte, dafür aber war es die Gegenwart.
Die Augen der Frau waren offen, und sie war noch bei Bewußtsein. Sie streckte einen gebrechlichen, mageren Arm nach ihm aus. Dies mußte ein gewaltvoller Ehekrach gewesen sein, dachte er. Oder vielleicht ein Raubüberfall bei ihr zu Hause.
»Bitte helfen Sie uns«, flüsterte Nana Mama. »Bitte helfen Sie uns.«
67.
Die Fifth Street war verbarrikadiert und für den Verkehr total gesperrt. John Sampson ließ seinen schwarzen Nissan stehen und rannte das restliche Stück bis zu Alex’ Haus. Überall in der ihm so sehr vertrauten Straße heulten Sirenen von Streifen- und Rettungswagen.
Sampson rannte so schnell wie nie zuvor, die furchtbarste Angst seines Lebens umfing ihn. Seine Füße trommelten auf die Trottoirsteine. Sein Herz war in Aufruhr, als wolle es zerspringen. Er bekam keine Luft, und er war sich sicher, daß er sich übergeben mußte, wenn er nicht sofort mit der Rennerei aufhörte. Der Kater der letzten Nacht hatte seine Sinne zwar abgestumpft, aber bei weitem nicht ausreichend.
Immer noch kamen Polizeiwagen an, inmitten der Verwirrung, des Lärms, des Gedrängels. Sampson stieß die Gaffer aus der Nachbarschaft beiseite. Seine Verachtung für ihr Verhalten war nie so offensichtlich, nie so heftig gewesen. Überall, wohin Sampson schaute, weinten Menschen. Menschen, die er kannte, alles Nachbarn und Freunde von Alex. Er hörte, wie Alex’ Name geflüstert wurde.
Als er den vertrauten Holzzaun erreichte, der das Grundstück der Cross umgab, vernahm er etwas, das ihm den Magen umdrehte. Er mußte sich auf den weißgestrichenen Zaun stützen.
»Da drin sind alle tot. Die ganze Familie Cross hat’s erwischt«, blökte eine pockennarbige Frau in der Menge lautstark. Sie sah aus wie eine Figur aus der Fernsehserie Cops , mit demselben Mangel an Feingefühl. Sampson fuhr zum Ursprungsort der schmerzenden Worte herum.
Er bedachte die Frau mit einem bösen Blick und schob sich in den Garten, vorbei an zusammenklappbaren Absperrgittern und gelben Klebebändern.
Er nahm die Treppe der vorderen Veranda mit zwei langen, athletischen Schritten und wäre fast mit Sanitätern zusammengestoßen, die eilig eine Trage aus dem Wohnzimmer trugen.
Sampson blieb unvermittelt stehen. Er konnte es nicht fassen. Auf der Trage lag Jannie, und sie sah so unglaublich klein aus. Er beugte sich über sie und sackte dann schwerfällig auf die Knie. Die Veranda erbebte unter seinem Gewicht. Ein leises Stöhnen drang aus seinem Mund. Keine Spur mehr von Stärke oder Tapferkeit. Ihm brach das Herz, und er unterdrückte einen Schluchzer.
Als sie ihn sah, fing Jannie an zu weinen. »Onkel John, Onkel John.«
Sie nannte seinen Namen mit schwacher, trauriger, verletzter Stimme.
Jannie ist nicht tot, Jannie lebt, dachte Sampson, und die Worte wären fast aus ihm herausgeplatzt. Er wollte den Gaffern die Wahrheit zuschreien. Hört auf mit den verdammten Gerüchten und Lügen! Er wollte alles wissen, alles auf einmal, aber das war nicht möglich.
Sampson beugte sich dicht über Jannie, seine Patentochter, die er liebte, als wäre sie sein eigenes Kind. Ihr
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