Patty Janes Frisörsalon
fest. Sie marschierte Meilen; zum Page-Flughafen, um die Flugzeuge starten und landen zu sehen, die Washington Avenue hinunter zum Bahnhof. Sie fuhr mit Nora zur Aussichtsplattform des Foshay-Tower-Gebäudes hinauf und hielt das krähende Kind ans Fenster. Zusammen blickten sie hinunter auf die weiträumige Stadt unter ihnen.
»Uns liegt die Welt zu FüÃen«, flüsterte Patty Jane, »jedenfalls jetzt.«
Jeder Spaziergang stärkte und belebte sie, aber sobald sie in der Wohnung zurück war, verpuppte sie sich wieder, faltete ihre Schmetterlingsflügel zusammen und kroch in ihren Kokon. Um während Avels Abwesenheit für ihre Schwester dasein zu können, war Harriet zu Patty Jane gezogen. Ione übernachtete immer noch in ihrem eigenen Haus, verbrachte jedoch den gröÃten Teil des Tages bei ihrer Schwiegertochter, wo sie die Rolle der Köchin und Haushälterin übernommen hatte. Eines Tages, als Patty Jane unterwegs war, zog Ione ihr Bett ab und trug die Laken und Decken zur Waschmaschine in den Keller hinunter. Als sie mit der Wäsche fertig war, hängte sie die Sachen hinten im Garten zum Trocknen auf die Leine. Sie fiel aus allen Wolken, als ihr, bei ihrer Rückkehr in die Küche, eine hysterische Patty Jane den Wäschekorb aus den Händen riÃ.
»Wo ist er?« schrie Patty Jane, und eine Schrecksekunde lang glaubte Ione, sie wäre verrückt geworden.
»Aha!« schrie sie, am Gürtel von Thors Bademantel zerrend, »du hast ihn genommen!«
»Was denn?« fragte Ione, ihre Hände vor der Brust verschränkt.
»Thors Bademantel! Du hast Thors Bademantel gewaschen!« Patty Jane preÃte den Stoff an ihr Gesicht. »Du hast alles weggewaschen, was noch von ihm da war.«
Harriet fand die beiden Frauen in Patty Janes Schlafzimmer vor, wo ihre Schwester schluchzend auf dem Bett lag, während Ione mit schlaff herunterhängenden Armen hilflos neben der Kommode stand.
» Uff-da , es tut mir so leid«, sagte Ione mit kreideweiÃem Gesicht. »Ich hab ihre Bettwäsche gewaschen. Thors Bademantel war auch dabei ...«
»Jetzt riecht er nur noch nach Waschpulver«, jammerte Patty Jane. »Von Thors Geruch ist nichts mehr übrig.«
Harriet setzte sich aufs Bett und strich ihrer Schwester über das Haar. »Patty Jane, Liebes, der Bademantel hat vielleicht früher mal nach Thor gerochen, aber du trägst ihn jetzt seit über zwei Monaten. Da ist der Geruch mit der Zeit ganz schön streng geworden.«
Patty Jane trommelte mit beiden Fäusten auf das Kopfkissen. »Das ist mir egal! Ich hab ihn immer noch gerochen.«
»Patty Jane«, sagte Ione wieder, »es tut mir so leid.« Ein Quieken entfuhr ihren Lippen. »Min sonne« , sagte sie leise. »Er fehlt mir auch.«
Scham schlich sich in Patty Janes Schmerz, aber sie tröstete ihre Schwiegermutter nicht. Ione hatte vielleicht einen Sohn verloren, aber verlassen hatte er seine Frau.
»Könnt ihr mich eine Weile allein lassen?« fragte sie mit dünner Stimme, und dann weinte sie sich in den Schlaf.
Im ersten Monat nach Thors Verschwinden hatte Harriet ihre Musikstunden aufgegeben, doch als die Wochen ins Land zogen, ohne daà er zurückkehrte, nahm sie sie wieder auf. Ihre Lehrer beabsichtigten, sie bei den Konzerten ihrer jeweiligen Abteilungen groà herauszubringen. Stella Amundsen war ganz vernarrt in ihre Idee, Harriet und ihren besten Bariton mit einem Potpourri aus Filmschlagern auftreten zu lassen. Sie war überzeugt, ihre Schützlinge seien ebenso gut wie Nelson Eddy und Jeanette McDonald, wenn nicht sogar besser.
Harriet ging jeden Tag mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit in die McKern-Musikschule, denn in ihren Mauern war sie von dem umgeben, was für sie so lebenswichtig war wie die Luft zum Atmen: Musik. Sie war glücklich, wenn sie das Gebäude betrat und den Portier grüÃte. Sie war glücklich, wenn sie durch die Korridore ging und die verschiedenen Klänge hinter jeder Tür hörte: Das Streichquartett beim Stimmen, ein einsames Oboensolo, ein Klavierduo beim Jazzen. Mit Freude und Stolz trug sie ihren Trompetenkasten, der für sie ein Zeichen ihrer Identität war. Sie war glücklich, wenn sie sich in Evelyn Brights Zimmer an die Schulharfe setzte und ihren Rock glättete, bevor sie in die Saiten griff. Sie war glücklich, wenn sie beim Eintreten in den Gesangssaal
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