Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
indischen Klamotten in Notting Hill besaß, hatte Speed eingeworfen mit David und mit ihm beim Led-Zeppelin-Konzert geknutscht, bis sie unter der Bestuhlung landeten. Peter hatte sie kennengelernt, als sie bei einer Vorstellung des Living Theatre auf die Bühne gegangen war, wo sich alle berührten. Einige zogen sich aus. Andere, vor allem die Älteren, waren auf mehr aus als die keuschen Berührungen, die sich Peter erlaubte. Und dann war da Ben. Und Mandrax. Dann Balamani. Und eine Opiumpfeife.
Und schließlich Max. Das Ende kam mit dem LSD-Trip mit Max. Erst begann der Horizont zu brennen, später sah sie im Wohnzimmer des kleinen Reihenhauses in Clapham Common Würmer aus den Wänden kriechen. Sie hatte geglaubt, tot zu sein.
Sie mußte entsetzlich geschrien haben. Jede seiner Berührungen, mit denen Max sie beruhigen wollte, hatte gebrannt wie Feuer, und sie hatte noch lauter geschrien, bis er ihr in seiner Verzweiflung den Mund zuhalten wollte und sie fast erstickt wäre. Irgend jemand holte die Polizei. Irgendwie landete sie im Krankenhaus. Irgend jemand holte sie wieder heraus und setzte sie in den Zug nach Frankfurt.
Wo schließlich alles begann, die Liebe und die Schönheit. Und erst als die Liebe zerbrach, kamen all die anderen, als ob sie die Wunde hätten schließen können – Winnie und Frank und Marco und Werner und Paul. Vorbei und vergessen. Was machte das schon.
Kurz vor Bad Soden fuhr sie auf einen Parkplatz, senkte die Rückenlehne ihres Sitzes und versuchte zu schlafen.
Ein Palimpsest ist ein Stück beschriebenes Pergament, das man abgeschabt hat, um es erneut benutzen zu können. Aber was geschieht, wenn sich die alte Eintragung wieder bemerkbar macht? Sichtbar wird? Mit der neuen Schrift konkurriert? Sie überwältigt? Sie ihrerseits auslöscht?
9
Am Tag, an dem das Fernsehen kam, stand Klein-Roda kopf. Bremer lehnte stillvergnügt am Gartentor und sah zu, wie drei Männer und eine Frau mit Kamera und Mikrofon das Dorfleben aufmischten.
Nicht daß man hier in der Provinz Fernsehen noch für etwas Besonderes hielt, sein Dorf war medienerfahren wie alle anderen, die sich schon mal um den Titel »Hessens dollstes Dorf« beworben hatten. Außerdem schickten die Fernsehanstalten regelmäßig unerschrockene Reporter vorbei, die nach Rinderwahn und Vogelgrippe fragten oder, im Namen der Klimakatastrophe, Vorbildliches und Verwerfliches recherchierten, etwa die Solaranlage auf Willis Scheunendach (»die richtige Entscheidung!«) oder den zunehmenden Rapsanbau auf den Feldern (»gut für die Energiebilanz, schlecht für die Artenvielfalt«). Medienkompetenz war selbstverständlich für alle, die von Kindesbeinen an Mama und ihr Videogerät gewohnt waren.
Aber heute ging es um mehr, genauer: Es ging um alles. Das Thema, das die vier und ihr Gerät angelockt hatte, lautete »Das Dorf und sein Superstar«. Das Thema waren Basti und die Castingshow »Hessen sucht den Superstar der Volksmusik«.
Es hatte eine heiße Debatte darüber gegeben, ob Basti mitmachen sollte beim Wettbewerb der volkstümlichen Musiker, immerhin waren so erwachsene und erfolgreiche Acts dabei wie die Gletscherfetzer oder Regina, »die aparte Erscheinung mit dem aufregenden Timbre«. Marie hatte mit gekrauster Stirn wiederholt, was ein Lehrer in Bastis Schule zu bedenken gegeben hatte: ob das Kind nicht zu jung sei für öffentliche Auftritte und frühen Ruhm oder frühe Niederlagen, je nachdem. Basti spielte schließlich erst seit zwei Jahren – auf dem Akkordeon, einer steirischen Harmonika »Alpenklang«, die ihm sein Großvater als Trost für die verschwundene Katze geschenkt hatte.
Alle widersprachen. Basti war mit seinen elf Jahren nicht nur ein Virtuose auf der Wanzenpresse – da sieht man mal, welch kreativen Schub der Verlust eines geliebten Haustieres auslösen kann, dachte Bremer –, sondern auch im Scheinwerferlicht und vor tobenden Massen cool und locker wie ein alter Hase. Basti in seinen neuen Geox, die Gottfried ihm nach dem ersten erfolgreichen Auftritt in der Castingshow spendiert hatte. Basti in seiner feschen Lederhose. Basti mit »Hej, Slavko, spiel uns eins«, das Bremer mittlerweile mitsingen konnte, auch wenn das Stück nicht unbedingt zur Musik seines Herzens zählte.
Das Fernsehteam filmte Basti beim Üben, Basti beim Hühnerfüttern, Basti und seine edlen weißen indischen Pfautauben, Basti und seine stolzen Großeltern Gottfried und Marie. Und, natürlich, das Ambiente, in dem dieses
Weitere Kostenlose Bücher