Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
geballten Aufmerksamkeit, die sie zu spüren glaubte. Sophie hob die Augen. Für einen Moment waren die Gesichter der Menschen vor ihr eine Ansammlung heller Ovale. Dann schärfte sich ihr Blick wieder, und sie sah, daß dem Mann mit den geschlossenen Augen das Kinn auf die Brust gesunken war. Er schnarchte.
Sie verlor den Faden. Sie brach ab, mitten im Satz. Die ersten lachten.
Der Mann schrak auf, als seine Nachbarin ihn anstieß, und sah verlegen zu ihr hoch. Sophie lächelte verzeihend und las weiter, aber der Bann war gebrochen. Sie war aus dem Traum gefallen, sie erreichte ihr Publikum nicht mehr, sie hatte sich selbst verloren. Und plötzlich war ihr der eigene Text fremd. Die Geschichte von Sascha, Charles und Angel kam ihr kalt und konstruiert vor, das eigene Buch bloßes Kunsthandwerk ohne Seele. Saschas Schönheit stand nur auf dem Papier. Und die Liebe war ein Irrtum, ihr zu opfern vergeblich.
Die ersten verließen den Raum.
Sophie spürte, wie ihr heiß wurde und dann der kalte Schweiß aus den Poren kroch. Wenn sie jetzt alle gingen … Sie blickte auf. Nein, nur einer war aufgestanden, das bedeutete nichts. Ein Mann. Wahrscheinlich mußte er mal. Die Prostata. Sie wollte den Blick wieder senken, aber der Mann stand da und rührte sich nicht. Er fixierte sie. Kannte sie ihn? Er war schlank, die Haarfarbe konnte sie nicht erkennen, er trug eine schwarze Mütze auf dem Kopf. Er hielt ihr Buch in der Hand, hob es hoch, als ob er ihr damit drohen wollte. Dann, endlich, ging er.
Sie las weiter. Sie stockte. Sie stotterte.
Es war die Szene kurz vor dem Abschied. Nur noch wenige Abschnitte. Das hältst du durch, sagte sie sich. Aber die Buchstaben schienen sich von den Seiten gelöst zu haben, sie erkannte sie nicht mehr. Alles geriet in Bewegung, der Tisch, der Sessel, ihr Magen hob und senkte sich. Und das Licht war merklich dunkler geworden.
Sie hörte es murmeln, dort unten im Publikum. »Brauchen Sie einen Arzt?« rief jemand. Sie schüttelte den Kopf. Nach ein paar lähmenden Sekunden und einem Schluck Wasser hatte sie sich wieder gefangen, lächelte ins Publikum, entschuldigte sich und las die Szene zu Ende. Aber sie hatte keine Luft und keine Stütze mehr, ihre Stimme war viel zu leise. Und die Worte klangen in ihren Ohren wie raschelndes Papier.
Endlich war es vorbei. Sophie atmete tief ein und wieder aus, legte das Buch aufgeklappt auf den Tisch, strich noch einmal über die Seiten und sah dann auf. Stille. Und endlich Applaus. Sie klatschten, alle, aber es klang nicht so wie sonst. Es klang gedämpft, verlegen fast. Sie sah zu Hans-Jürgen hinüber, dem die Buchhandlung gehörte, die eigentlich eine Weinhandlung war – und spürte seine Unsicherheit. Die ersten Zuhörer gingen. Vor dem Büchertisch stand nicht wie sonst eine Schlange. Und nur wenige trauten sich zu ihr, um sich ein Buch signieren zu lassen. Sie wirkten fast verschüchtert, sie schienen zu fürchten, daß Sophie zu schwach sein könnte, um den Füller zu halten. Unsinn, dachte sie. Sie signierte schwungvoll, wie immer. Es war nichts.
Nichts? Als sie ihren Wagen auf die B 49 gesteuert hatte und sich in der Dunkelheit nach Hause tastete, versuchte sie zu begreifen, was ihr Verstand nicht begreifen wollte.
Das Haus. Sie hätte nie und nimmer dort einziehen dürfen. Und als nächstes wollten auch noch Fremde kommen und im Haus nach dem vermißten Kind suchen. Auf dem Boden. Im Keller. In Schränken und Abstellräumen. Sie mochte nicht daran denken, was sie finden würden. Möbel? Koffer? Kisten? Erinnerungen?
Sie fuhr langsam, sie wurde immer langsamer. Ein Kleinwagen überholte sie laut hupend. Jugendliche auf dem Weg zur Disco, und später, in den frühen Morgenstunden, auf dem besten Weg zu einer innigen Verbindung mit einem Chausseebaum. In Gegenden wie dieser standen besonders viele Holzkreuze am Straßenrand mit Namen, Geburts- und Todesdatum. Junge Männer und nicht mehr ganz frische Autos. Ihr Mitleid war im Laufe der Jahre schütter geworden und dann erloschen.
Als sie in der Siedlung ankam, war es kurz nach Mitternacht. Bei den Nachbarn war alles dunkel. Das Haus duckte sich unter die schwarzen Bäume, die schmale Mondsichel, die ungeheuer dekorativ auf dem Rücken lag, wie ein Genießer in der Hängematte, spendete kein Licht. Sie parkte das Auto und öffnete das Gartentor. Der Weg war nicht beleuchtet, sie hatte es immer abgelehnt, alles hell wie der Tag zu machen, man verlernt ja sonst die Nacht. Aber diesmal
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