Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
Buch an den Fall erinnerte, den sie vor zwanzig Jahren im Übernahmelehrgang bei Ernst Zobel durchgenommen hatten. Sozusagen als Gesprächsangebot.
War da nicht etwas gewesen, irgendeine Notiz über den alten Zobel, in einer der letzten IPA-Nachrichten?
Er hob den Stapel mit den Zeitschriften aus dem Regal und verteilte alles auf dem Boden. Die Hessische Polizeirundschau: drei Jahrgänge komplett. Beiseite legen. Pressemitteilungen, die hier nicht hingehörten: Extrastapel. Zeitungen, Illustrierte, Nachrichtenmagazine: Papierkorb. Blieb der etwas niedrigere Haufen mit dem IPA-Report. In einem der Hefte hatte er es gelesen, vor Monaten schon. In welchem Heft? In dem mit der schicken Mieze aus Andorra auf dem Titel, die so unnachahmlich elegant den Verkehr regelte?
Veranstaltungskalender. Biker-Tour zum Bierfest nach Kulmbach. Ohne mich, dachte er.
Sammler- und Tauschbörse des Sammlerkreises Frankfurt am Main für Polizeieffekten. Wofür die Kollegen so Zeit haben.
Körnige Fotos vom 31. IPA-Preisskat. Vom Weihnachtsmarkt in Würzburg. Von der Rheingauer Weinwanderung. Und – da war’s. Ehrenpreis der IPA Frankfurt 2005 für Ernst Zobel wegen seiner Verdienste als Schatzmeister der Sektion Mittelhessen.
DeLange griff zum Telefon. Servo Per Amikeco. Das Motto der International Police Association, IPA genannt. Auf Esperanto, was niemand sprach. Aber auch mit Englisch konnte man sich den Dienstweg verkürzen. Die IPA war Direkthilfe für Polizisten rund um den Globus, schnell und unbürokratisch.
»Ernst Zobel? Der wird sich freuen, wenn du anrufst.« Danke, Anke. DeLange wählte die Nummer, die sie ihm gegeben hatte, Friedberger Vorwahl, die Wetterau also. Zurück zu den Wurzeln. Man hatte Zobel immer angehört, daß er ein Landei war. Ende Vierzig war er damals gewesen beim Kriminalübernahmelehrgang in Wiesbaden. Also war er heute Ende Sechzig.
»Giorgio DeLange! Jo!« Der Alte kannte ihn noch. DeLange fühlte seine Kehle eng werden. Rührung? Na, und wie.
12
Heute war sie nicht zu früh aufgewacht. Und heute hatte sie nicht vergessen, Pantoffeln an die Füße zu ziehen. Heute hatte sie es sogar geschafft, eine Runde zu joggen. Du machst Fortschritte, dachte Sophie, hängte die Windjacke an den Garderobenhaken im Flur und öffnete die Küchentür. In der Tür blieb sie stehen. Es roch. Nicht nach dem halbverwesten Tierkadaver von gestern abend. Auch nicht nach eingebranntem Kaffee, sie hatte die Kaffeemaschine seit dem Vortag nicht mehr benutzt. Es roch fremd. Nach Katzenfutter? Nein, den Geruch kannte sie. Wo war überhaupt die Katze? Wo war … Der Name. Sie hatte schon wieder den Namen vergessen. Ihr Hirn. Es war zum Verzweifeln.
Sophies Blick fiel auf den Küchentisch. Erst erfaßte sie nicht, was da lag, und dann mißtraute sie ihrer Wahrnehmung. Es konnte nicht sein. Sie halluzinierte. Aber als sie sich vorsichtig dem Tisch näherte und mit den Fingerspitzen das Gebilde berührte, gab es keinen Zweifel mehr: Es waren Knochen. Mit ein paar Schritten war sie beim Küchenschrank. Jemand hatte die Knochen ausgeräumt, die sie dort aufbewahrte, jeden einzelnen, und sie auf dem Tisch ausgelegt.
Jemand war im Haus gewesen. Die Tierleiche konnte jemand durchs Flurfenster hineingeworfen haben, aber das hier … Sophie ließ sich auf den Stuhl sinken und betrachtete das Muster, das die Knochen bildeten. Es erinnerte sie an den Totenkopf einer Piratenflagge. Sie ließ die Hände über den Knochen schweben und schob sie dann vorsichtig zusammen. So etwas machte niemand, der sie mit Tierkadavern erschrecken wollte. Das war jemand, der sie subtiler quälen wollte.
Wer? Sie wußte, sie mußte durchs Haus gehen, durch jedes einzelne Zimmer, auch in das Zimmer, das sie nie betrat, mußte in die Schränke gucken, unter die Betten. Aber ebensogut wußte sie, daß sie niemanden finden würde.
Sie hatte die Knochen selbst aus dem Schrank genommen. Sie hatte damit gespielt. Sie hatte das Ganze vergessen. War es nicht so? Es mußte so gewesen sein.
Der Feind war draußen.
Sie stand auf und fegte mit einer unbedachten Handbewegung den zarten Rattenschädel vom Tisch, der auf dem Küchenboden zerschellte. Es knirschte unter ihren Füßen, als sie zum Küchenschrank ging, um die Knochen sorgfältig wieder zu verstauen. Sie schloß die Schranktür behutsam, ging hinüber zur Kaffeemaschine, füllte Wasser ein, gab Kaffeemehl in den Filter.
Der Feind hat sich nicht verändert.
Damals im Sommer, im Sommer 1968, dem
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