Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
gefunden, nicht tot und nicht lebendig.«
Was für ein Gedächtnis. Und das nach einem halben Jahrhundert Polizistenleben mit allem, was die menschliche Existenz zu bieten hat, von Ladendiebstahl bis Kindesmißbrauch. »Erinnerst du dich an alle Fälle so gut?«
»Nein, Jo. Ich erinnere mich nicht an alle Fälle. Aber diesen hier werde ich nie vergessen. Er zeigt, worauf es in unserem Beruf ankommt.«
Auf die Nase, dachte DeLange.
»Auf absolute Unparteilichkeit. Und …«
»Auf Intuition.«
Ernst Zobel lachte. »Na also, Jo. Was beschäftigt dich daran? Hast du eine neue Spur? Oder geht es nur um schöne Erinnerungen an die Jahre deiner Ausbildung? Der lange Weg vom Wurm zum Menschen?«
»Weiß nicht. Vielleicht.«
»Raus mit der Sprache. Du hast was.«
Der Alte hatte sein Gespür nicht verloren. Aber DeLange zögerte. »Ich kann’s dir noch nicht sagen. Wenn ich mehr weiß …«
»Sag mir Bescheid«, sagte Zobel. »Ich bin da.«
Am liebsten wäre DeLange sofort wieder gefahren. Die Akte Raabe. Sie mußte noch irgendwo aufzutreiben sein. Aber das wäre unhöflich gewesen. »Und deine Frau …«, fragte er schließlich.
Ernst Zobel sagte eine Weile nichts. Seine Stimme klang belegt, als er endlich antwortete. »Wir sind seit 45 Jahren verheiratet. Und jetzt …«
Mit Feli war es noch nicht einmal acht Jahre gutgegangen.
»Sie ist im Krankenhaus. Sie hat nicht mehr lange zu leben. Ich hole sie übermorgen nach Hause.« Ernst Zobel streichelte den Hund. DeLange wußte nicht, was er sagen sollte.
Die Minuten verstrichen, bis das Schweigen weh tat. »Laß nur«, sagte Ernst Zobel leise, als DeLange Tröstendes zu murmeln versuchte. Schließlich verabschiedete er sich und fuhr zurück ins Präsidium.
Beim Mittagessen bildete DeLange sich mitleidige Blicke der Kollegen ein. Karla war verdächtig freundlich zu ihm. Die Kollegin Schau ließ sich nicht blicken. Und das Chickencurry schmeckte fad.
Alles andere war Routine. Die Akte im Fall Raabe mußte bei der KD in Fulda liegen, sofern sie sie aufgehoben hatten. Anrufen. Lange klingeln lassen. Müder Kollege an der Strippe.
»1968? Ist ja ganz schön lange her. Das ist geschreddert.«
»Sicher?«
»Hundertprozentig.«
»Können Sie das garantieren?«
»Na ja. Man müßte jemanden in den Aktenraum schicken. Kann dauern.«
»Habt ihr soviel zu tun da oben?«
»Na gut, weil Sie es sind.« Noch müder, der Kollege. »Halbe Stunde.«
»Also um 14 Uhr 30?«
»Ja. In Gottes Namen. Um halb drei. Wenn es denn sein muß.«
Halbe Stunde später. Wieder ganz lange klingeln lassen. Immer noch müde, der Kollege. Aber er hat was gefunden! Einen ganzen Aktenordner. Jubel.
»Ich brauche eine offizielle Anforderung.«
Müde und risikoscheu, der Mann. Großartige Mischung.
»Geht klar. Geht gleich raus.«
Gleich ist übertrieben. Erst die Staatsanwaltschaft anrufen und die Akte freigeben lassen. Aber unter welchem Vorwand?
Die Tür. Wieder Klara. »Das Museum, Jo.«
Das Museum. Unser Polizeimuseum. Große Publikumsattraktion. Verbrecher, Bullen, Sensationen.
»Rosi hat Jubiläum. Das ist ein guter Anlaß. Wir dachten an eine Art …«
Gedenkveranstaltung? Nur über meine Leiche. Und ihr 50. Todestag war letztes Jahr.
»Ihr 75. Geburtstag. Der Fall fasziniert die Leute.« Klara ließ sich in den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch fallen.
»Der Geburtstag war vor knapp zwei Monaten, Klara.« Aber Rosi war als Leiche nicht totzukriegen. Rosemarie Nitribitt, das Frankforter Mädsche, mit einer Kopfverletzung tot aufgefunden am 1. November 1957. Eine der erfolgreichsten Huren der Nachkriegsgeschichte. Erfolgreicher jedenfalls als die Kollegen, die in ihrem Todesfall ermittelten, die hielten damals Pannenrekord. Und wir Sensibelchen stellen auch noch ihren Schädel in unserem Museum aus. Ja, der Kopf der Nitribitt hat einiges gesehen. Nicht nur Erfreuliches.
»Na und? Mach nicht schon wieder so ein Gesicht, Jo.« Klara, unerschütterlich gut gelaunt. »Ich möchte, daß wir am Beispiel der Nitribitt einmal demonstrieren, was wir heute anders machen würden.«
Alles. Wir haben heute eine Aufklärungsquote, die Mord zu einer Sache macht, zu der man niemandem raten kann. Worum sich leider ausgerechnet die nicht kümmern, die es im Affekt tun – und das ist die Mehrheit.
»Eine großartige Idee.« Manchmal haben auch Vorgesetzte eine Eingebung. »Und wer soll das organisieren?« Die Frage war die Antwort. Sie lächelte. Er lächelte sparsam zurück. Und
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