Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
Palästinensertuch vor dem Gesicht. Damals an der Startbahn West. Nein, das waren keine friedlichen Bürger mehr. Am Ende gab es zwei Tote – unter den Polizisten.
Ihm ging die Luft aus. Als er absetzte, etwas zu laut, aufstand, etwas zu geräuschvoll, und schweißnaß zur E3 gehen wollte, traf ihn ein Bannstrahl aus stahlblauen Augen. Eine große und ziemlich beeindruckende Rothaarige. Er lächelte sie entschuldigend an, obwohl er ihr lieber ein Raubtiergrinsen und die Zähne gezeigt hätte.
Sie lächelte allerliebst zurück, als er seine 220 Pfund hochstemmte, und sagte: »Angeber.«
V OR DEM S CHNEE
1
Das Rauschende Brünnlein gab es nicht mehr, was schade war – oder auch nicht, dachte Bremer: Das häßliche gelbe Fensterglas war verschwunden, die dunkelbraunen Gardinen ebenfalls, und die schweren Sitzgarnituren und der Bartresen, braun gebeiztes Furnier, waren auf dem Sperrmüll gelandet. Der alte Fritz hatte sich zurückgezogen und stand nur noch selten hinter dem Zapfhahn. Er ließ nicht erkennen, ob er das Alte vermißte oder das Neue begrüßte.
Sein Enkel war zwei Jahre zuvor von der Hotelfachschule nach Heckbach zurückgekehrt, mit einer jungen hübschen Französin, die, wie sich die Klatschbasen erzählten, beim Anblick der düsteren Kneipe einen Weinkrampf gekriegt und dann den ganzen Laden auf den Kopf gestellt hatte. Nicht nur den Gastraum, in dem jetzt klassische Musik, Bilder von Auberginen, Tomaten und Kürbissen an den Wänden und Kerzenlicht und weiße Spitze auf den Tischen dominierten, sondern auch den Garten. Nun saß man hier nicht mehr auf Bänken an langen Biertischen, sondern in zierlichen Sesselchen an Bistrotischchen unter einer altrosa Markise.
Bremer setzte sich an einen der Tische neben der Tür. Daß man schon draußen sitzen konnte, so früh im Jahr, war ein Grund, dem Klimawandel von Herzen dankbar zu sein. Wenn es denn einen gab.
Vorne, nahe dem Gartentor, saßen Leute, die man hier früher nicht zu sehen bekommen hätte: der junge Anwalt, mit dem Marianne drohte, wenn Willi ein paar zuviel getrunken hatte; ein paar Tische weiter der kreative Fotokünstler aus Groß-Roda, bei dem sich die Frauen in lasziven Posen ablichten ließen, um ihrem Liebsten eine Freude zu machen. Auch die restliche Kundschaft war nicht mehr ganz die alte, obwohl Felix eine Karte mit bewährten Brotzeitgerichten bereithielt sowie ein gutgezapftes Bier für diejenigen, die sich Jakobsmuscheln an Shiitake-Pilzen und Lende vom Freienseener Schwein auf Zuckererbsen nicht leisten konnten. Wie zum Beispiel die Gruppe lebenslustiger Rentnerinnen, über deren Nordic-Walking-Stöcke Bremer vorhin fast gestolpert wäre.
Allen, die dem Rauschenden Brünnlein nachtrauerten, pflegte Felix zu erklären: »Man kann auch mit einem Glas Pfälzer Grauburgunder und einem Salat mit Rhöner Ziegenkäse glücklich sein. Und solange mir der Landfrauenchor jede Woche die Treue hält und der Skatclub und der Karnevalsverein, mach ich ja wohl irgend etwas richtig, oder?« Die Arbeitslosen und Frühverrenteten vermißte er offenbar nicht. Die traf man jetzt ein Dorf weiter vor Ida’s Futterkrippe – Alles für den Hunger.
Auch Bremer vermißte nichts, nur den traditionsreichen Namen Rauschendes Brünnlein. Felix nannte seine feine Kneipe einfallslos Bei Felix.
Kriminalhauptkommissar a.D. Gregor Kosinski grüßte nach rechts und nach links, bevor er sich aufatmend in das Sesselchen neben Bremer fallen ließ und die langen Beine von sich streckte, an die der Erfinder von Bistrotischchen nicht gedacht hatte.
»Lanz. Verkehrsbulldog, Jahrgang 1950«, sagte er zur Begrüßung.
»Wo?« Bremer blickte sich um.
»Gleich«, sagte Kosinski.
Ein tiefblauer Trecker mit einer Art Schornstein anstelle eines Auspuffs dieselte um die Ecke, im Fahrerraum unter einem knallroten Verdeck ein Jungbauer mit zwei quietschenden Kindern. Bremer kannte weder den Schlepper noch seinen Fahrer, aber das Modell war zweifelsohne besonders schön.
»Jahrgang 1951«, sagte Kosinski und bestellte bei Fanny ein Mineralwasser. »’tschuldigung.«
»Angeber«, sagte Bremer. Landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge an ihrem Sound erkennen war das eine, aber auch noch den Jahrgang präzise bestimmen? »Hätte ja auch Erwins alter Deutz sein können, oder?«
»Komm, Paul. Der Deutz D30 S ist ein Zweizylinder-Viertaktdiesel. Und der Lanz Bulldog ist selbstredend ein Einzylinder-Zweitaktdiesel.« Jetzt grinste Kosinski. »Ein Schlepper kann nicht einzylindrig
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