Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
Gurken. Unter dem Birnbaum blühten die gelben Krokusse. Die weißen unter dem Apfelbaum würden bald folgen. Die Apfelblütenknospen waren prall. Die Rosen trieben aus. Hoffentlich wurde es nicht mehr allzu kalt.
Dann ließ er den Hund hinaus. Kosinski blieb in der Haustür stehen. Noch war der Himmel sternenklar, aber am Horizont, Richtung Wasserkuppe, stand ein Wolkenband, hinter dem sich der aufgehende Mond versteckte.
Im Arbeitszimmer, das er sich im ehemaligen Schweinestall eingerichtet hatte, was die Frauen der Familie noch immer zu dummen Witzen reizte, lag das Protokoll eines Interviews, das er im Winter gemacht hatte. Ein Mann aus Groß-Roda erzählte von den Ereignissen in »Heinrichs Verhängnis« vierzig Jahre zuvor. Er hatte das Interview nach dem Gespräch mit Paul herausgesucht und nachgelesen. Es war alles noch schlimmer, als er in Erinnerung gehabt hatte.
Und wir haben nichts dagegen unternommen, dachte Kosinski. Im Gegenteil: Sie alle hatten mehr als einen Fehler gemacht damals, auch er, der als Polizeioberwachtmeister auf seiner Dienststelle nichts zu sagen gehabt hatte. Aber was entschuldigte das schon.
Sie hatten sich parteiisch verhalten. Sie hatten die Opfer wie potentielle Täter behandelt. Sie hatten oberflächlich ermittelt. Sie hatten womöglich einem Verbrechen Vorschub geleistet. Und er? Er hatte seinem Gefühl nicht getraut, das ihm schon damals gesagt hatte, daß sie alle etwas Wichtiges, etwas Wesentliches übersehen hatten.
Freut dich das, Paul? Daß wir genauso stur und fremdenfeindlich sind, wie ein toleranter Städter wie du sich das so vorstellt?
Kosinski rief nach dem Hund, der schweifwedelnd angelaufen kam und sich an seine Hosenbeine schmiegte. Die Vergangenheit meldete sich zurück. Kein schönes Gefühl für einen pensionierten Kerl, der sich auf seine Karriere bislang etwas eingebildet hatte.
Kein schönes Gefühl? Er fühlte sich beschissen.
Gregor Kosinski schloß die Haustür und setzte sich ohne große Lust an den Abendbrottisch. Als seine Frau nach Hause kam, lag er schon im Bett.
6
Das Schreien drang in seinen Traum. Bremer war im Bruchteil einer Sekunde wach, knipste die Nachttischlampe an und sprang aus dem Bett. Er kannte den Laut. Er brachte seinen Puls auf Hochtouren und ließ ihm zugleich das Blut gefrieren. Sein Körper reagierte wie vor Hunderttausenden von Jahren der eines Savannenbewohners auf den Säbelzahntiger.
Dessen Nachfahre hockte im Schlafzimmer in der Ecke unter dem Fenster, sträubte das Fell, machte einen Buckel und knurrte. Und wieder schrie das Opfer, laut und durchdringend. Todesangst und wütender Protest. Die Beute wollte leben.
Neben Birdie saß Nemax, der interessiert betrachtete, was sie im Fang trug. Die Kleine hatte einen Vogel im Maul. Eindeutig das Falsche.
Als Bremer auf sie zuging, wich sie knurrend aus, kroch unters Bett, lief dann ins andere Zimmer und galoppierte wieder zurück, als er ihr nachkam und auch dort nach ihr greifen wollte. Aber Bremer gab nicht auf. Vielleicht war der Vogel noch unverletzt. Denn womit Katzen spielen wollen, das nehmen sie vorsichtig zwischen die spitzen Zähne.
Soll ja nicht gleich schon vorbei sein, der ganze Spaß. Loslassen. Festhalten. Loslassen. Laufenlassen. Beobachten. Und dann mit der Pfote abstoppen. Hin und her rollen. Wieder laufen – oder davonkriechen lassen, je nachdem, wie angeschlagen das Opfer bereits war. Je länger, desto besser. Und zum Schluß – vielleicht – ein bißchen fressen, was man so schön weich gespielt hatte.
Du bist ein Idiot, ein Weichei, das sich in etwas einmischt, das nun mal Natur ist. Katzen sind so. Bremer blieb stehen.
Das kleine Raubtier knurrte und schielte zu ihm hoch. Und dann ließ Birdie den Vogel vorsichtig frei. Es war eine Meise, eins dieser kleinen lustigen Dinger, die den ganzen Winter über durch seinen Apfelbaum gehüpft waren und in den Futterringen geschaukelt hatten. Bremer rückte einen halben Schritt vor. Birdie grollte. Der Vogel bewegte sich und versuchte davonzukriechen. Jetzt hielt es Nemax für an der Zeit, sich einzumischen. Und als ob sie sich nicht entscheiden könnte, wer von beiden der bedrohlichere Spielverderber war, ließ Birdie den Vogel für einen Moment aus den Augen. Die Meise kroch in die Lücke zwischen Kommode und Wand, zu schmal für einen Katzenkopf und zu weit weg für eine Katzenpfote, hockte sich mit dem Rücken zum Feind und rührte sich nicht.
Bremer war auf ihren schrillen Protestschrei gefaßt,
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