Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
als ob jemand das Fenster von innen zerstört hätte. Das paßte so gar nicht zu den anderen Attacken auf Sophie Winter.
Bremer fürchtete sich immer mehr vor der Wahrheit. Wer versuchte die Frau einzuschüchtern? Wer wußte, wer sie wirklich war? Wer trachtete ihr womöglich nach dem Leben? Gottfried, wegen Marie? Marie, wegen Erika? Und welche Rolle spielte Sophie Winter selbst? Alles war möglich und alles war furchtbar.
Und wenn alles ganz anders wäre? Wenn das alles nichts mit der Vergangenheit zu tun hatte, geschweige denn mit den liebenswerten Bewohnern eines wunderschönen Landstrichs? Plötzlich war ihm das am liebsten. Genauso wie allen anderen auch.
Plötzlich ließ er auf sein Dorf nichts mehr kommen. Er war auch nicht anders als die anderen.
»Danke, daß Sie das mit dem Auto erledigt haben.«
Sie stand in der Tür, trug eine Küchenschürze, erkannte ihn gleich wieder und strahlte ihn an. Bremer forschte in ihren Zügen nach dem jungen Mädchen von damals, das er bei Ulla Abel auf dem Foto gesehen hatte. Ja, das könnte sie sein. Er konnte sich vorstellen, daß sie, ihre Freundin und Erika damals nicht nur unbedarfte Jungbauern um den Verstand gebracht hatten.
Aus der Küche roch es nach Kuchen. Durch die halbgeöffnete Küchentür sah er einen gedeckten Tisch für zwei. Sie erwartete Besuch.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie die Gegend hier kennen«, sagte Bremer und kam sich albern vor.
»O ja. Nur zu gut.« Sie öffnete die Tür zum Kaminzimmer und setzte sich ihm gegenüber aufs Sofa, die Hände auf dem Schoß gefaltet, ein Bild der Sittsamkeit. Auf dem Sofatisch lagen Zettel; nicht so viele wie beim letzten Mal und fein säuberlich untereinander angeordnet.
»Ich meine, ich wußte nicht, daß Sie damals schon hier gewohnt haben. Vor vierzig Jahren. 1968.« Was willst du von ihr, du Trottel, dachte er. Was willst du hier erfahren?
Sie hob die Schultern und lächelte. »Natürlich. Mein Summer of Love. «
Hieß nicht ihr Buch so? »Dann erinnern Sie sich bestimmt an Erika.«
»Erika?«
»Erika Berg. Ein junges Mädchen aus Streitbach. Damals siebzehn Jahre alt. Ein sehr schönes Mädchen, dunkle Haare, dunkle Augen.«
»Ach, Sie meinen die kleine Eri. Ja, die kam oft vorbei. Wir haben ihr ein bißchen bei der Emanzipation geholfen.« Sophie Winter lächelte, ein Lächeln, das ihm plötzlich nicht mehr sympathisch war. Weil es selbstgerecht wirkte?
»Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, daß das Mädchen etwas – behindert war?«
»Behindert?«
»Ich meine – geistig …« Verdammt, wie sagt man das denn nun?
»Verrückt? Klar war sie verrückt. Das waren wir alle.«
»Sie war Nymphomanin, sagt ihre Schwester.«
»Nymphomanin!« Sophie Winter war aufgestanden und ballte die Fäuste. »Bei denen galt jede als liebestoll, die nicht gleich den ersten besten Trottel aus dem Nachbardorf heiratete! Was für ein Quatsch!«
»Und wenn sie es doch war? Wenn sie keine Kontrolle über sich hatte? Wenn ihre Schwester glaubte, sie schützen zu müssen?« Bremer stand nicht auf, obwohl er wußte, daß das unhöflich war. Er mußte das klären. Er brauchte eine Antwort. Aber welche?
Wollte er, daß sie mit dem Finger auf Gottfried zeigte? Oder auf Marie? Auf Kosinski, auf den alten Wilhelm, auf alle, die sich damals gegen die drei Zugezogenen stellten, weil sie Angst um ihr bißchen Frieden hatten?
»Schützen? Die mußte man nicht beschützen. Nicht Eri.«
Sophie Winter war wieder der eiserne Schmetterling. Da war nichts Weiches, Unbestimmtes mehr. Sie weiß, was sie weiß, dachte Bremer.
»Eri war nicht behindert, sie kam aus freien Stücken zu uns. Zu Hause wollte man sie einsperren. Wir haben dem Mädchen geholfen, ohne daß sie es uns gedankt hätte, das ist alles.«
Bremer sah zu ihr hoch. Sie glaubte, was sie sagte. Und für einen Moment verschoben sich die Perspektiven. Was, wenn die Wahrheit in der Mitte lag? Was, wenn ein sexuell waches Geschöpf wie Erika nur hier auf dem Land als verrückt galt, während sie in Frankfurt zur damaligen Zeit vielleicht die Uschi Obermaier der Szene aus Künstlern, Musikern und Intellektuellen geworden wäre? Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll?
Der wahre Summer of Love war 1967 gewesen. 1968 lauerten sie schon in den Kulissen, die Drogendealer und sexuellen Freibeuter. Gegen das Leben in dörflicher Enge mochte man viel einwenden, aber es bot eine gewisse Sicherheit. An der großen Freiheit in der Stadt konnte man sterben, wenn man sich zuviel
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