Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
wusste, dass sie Anfang der neunziger Jahre aus dem Kosovo nach Deutschland geflohen war und hier mit ihrem Bruder eine bescheidene neue Existenz aufgebaut hatte, errötete leicht und nickte. Paul fühlte sich von ihren kindlich unschuldigen Avancen geschmeichelt und freute sich über die Extras, die sie immer wieder für ihn auf dem Großmarkt auftrieb. »Stimmt so«, sagte er, als er ihr das Geld in die kleine, behandschuhte Hand drückte.
»Danke sehr«, sagte die Frau leise. Sie wandte sich sogleich dem Propangasofen in ihrem Stand zu, als wollte sie verhindern, dass er ihre Verlegenheit bemerkte. Paul war froh, heute sie am Stand angetroffen zu haben und nicht ihren Bruder, der ihn wohl eher für einen drittklassigen Kunden hielt, der immer nur ein paar Cent in die Kasse brachte, für den seine Schwester aber Obst und Gemüse in Feinkostqualität einkaufte und reservierte.
Sobald er das Treppenhaus zu seiner Wohnung betrat, fühlte er sich wie schon am Morgen unbehaglich, und er fragte sich, ob er ein wenig Angst davor hatte, die Filme des gestrigen Abends zu entwickeln.
Er schloss nachdenklich die Tür auf. Zu Hause begrüßte ihn der überlebensgroße Abzug eines athletisch schlanken Frauenkörpers, der das Kopfende seines Flurs schmückte. Das gertenschlanke Model mit mokkabrauner Haut stand auf Zehenspitzen, die schlanken Beine über Kreuz, die Bauchmuskeln durch ein glänzendes Öl zur Geltung gebracht, den Kopf weit in den Nacken geworfen, die Arme verschlungen und bis ans obere Bildende gehoben. Eine tätowierte Schlange wand sich quer über die zarten Schulterblätter die Wirbel hinab bis zum Po. Nicht gerade ein Dürer – eher ein sehr früher Flemming, dachte Paul und wandte sich seinem Schreibtisch zu, einer schlichten Glasplatte auf zwei mausgrau lackierten Tapeziertischbeinen.
Er stellte seine Fototasche darauf ab und entnahm ihr die belichteten Filmpatronen, auch die des Vortages. Sorgsam achtete er darauf, dass er keinen der belichteten Filme übersah, denn das war ihm schon öfter passiert, und er hatte sich dann im Nachhinein darüber geärgert, wegen eines einzigen vergessenen Films erneut die Entwicklungschemikalien ansetzen zu müssen.
Er zählte also nach und, ja, sie waren vollständig. Er nahm die Patronen mit beiden Händen, schaltete im Vorbeigehen mit dem Ellbogen das Radio an und verschwand in der schlauchförmigen Dunkelkammer am Ende seines Ateliers. Im diffusen Halbdunkel knackte er mit routiniertem Griff die Metallhülsen sämtlicher Patronen und fädelte die Filme in seine Entwicklungsmaschine ein. Anschließend verließ er den Raum und machte es sich auf seinem Sofa bequem.
Beim anspruchslosen Gedudel aus dem Radio nickte er ein.
Aus der geschlossenen Schiebetür seiner Dunkelkammer drang ein leises Klingeln. Ein Signal dafür, dass die Filme fertig entwickelt waren. Paul raffte sich widerstrebend auf.
Er verspürte überhaupt keine Lust, seine gemütliche Position auf dem Sofa aufzugeben, und dachte mal wieder darüber nach, ob er nicht komplett auf digitale Fotografie umsteigen sollte. Aber er war in mancher Hinsicht ein konservativer Mensch. Der Umstieg von Schallplatte auf CD war bei ihm damals auch nicht von heute auf morgen über die Bühne gegangen.
Wieder ging er routiniert zur Sache, wischte die nassen Streifen ab und machte sich daran, sie an kleinen Klammern in einem schmalen Metallschrank aufzuhängen, aus dem ihm beim Öffnen feuchte Hitze entgegenströmte.
Paul trottete zum Sofa zurück, streckte sich aus und schloss die Augen.
Ein Läuten an der Tür riss ihn abermals aus seiner Ruhe. Automatisch zog er seinen Terminplaner heran, überblätterte die leidlich ausgefüllten Seiten der letzten Tage und sagte laut: »Mist!« Er hatte es vergessen. Es war glatter Zufall, dass er jetzt überhaupt in seinem Wohnungsatelier saß! Auf dem Weg zur Tür strich er sich die Haare zurecht, zupfte am Hemd, warf einen flüchtigen Blick in den Flurspiegel und war ziemlich gespannt auf das Mädchen, das seine Annonce in der Zeitung gelesen hatte, um sich als Aktmodell bei ihm vorzustellen.
»Hallo, ich bin P…« Das »aul« blieb ihm im Hals stecken.
»Und ich bin Lena.«
Paul war ehrlich überrascht, denn mit Lena hatte er nicht im Entferntesten gerechnet. Wie immer, wenn er Lena sah, öffnete sich sein Herz. Es hatte wenige Frauen in seinem Leben gegeben, mit denen er so sehr auf gleicher Wellenlänge lag wie mit Lena.
Doch in letzter Zeit hatten sie sich selten
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