Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
hinterlässt Frau und Kinder. Es geht mir sehr nahe, wenn du das verstehst. Außerdem …« Sie schaute zu Boden, als müsse sie überlegen, ob sie weiterreden solle, »außerdem bringt ein Toter auf der Baustelle Unglück.«
Paul hob die Brauen: »Ist das nicht bloß Aberglaube?«
»Das Gebäude stammt ja aus einer Zeit, als der Aberglaube dominierte. Da liegt es nahe, dass die Arbeiter das Murren anfangen. Wer weiß, was noch alles passiert.«
»Hör mir auf mit diesen Spukgeschichten«, sagte er und versuchte, sie durch einen Stups an die Schulter aufzumuntern.
Doch ihr Blick blieb kritisch. Was sie wohl mittlerweile über ihn dachte?
Sie riss ihn aus seinen Gedanken: »Ich suche jemanden, mit dem ich über das alles mal ganz in Ruhe reden kann.«
Paul rang immer noch mit sich selbst. Er wusste – eigentlich hätte er sich Zeit für Lena nehmen müssen. Doch er blieb standfest: »Ein anderes Mal gern. – Warst du auf seiner Beerdigung?«
Er nahm ihr angedeutetes Nicken wahr.
»Ich gehe dann mal wieder«, sagte Lena matt.
»Ja – und sorry.« Er ärgerte sich über sich selbst. »Entschuldige mein mangelndes Einfühlungsvermögen«, rang er sich ab und kassierte dafür ein abschätziges Zwinkern. »Die tragischen Unglücksfälle scheinen sich in letzter Zeit zu häufen.« Er bemerkte, wie sich Lenas Augenbrauen, zwei wie mit sorgfältig geführtem Pinsel gezogene schwarze Bögen, minimal hoben.
»Densdorfs Ableben ist auch nicht gerade das gewesen, was man sich so wünscht«, erklärte Paul.
»Densdorf?«
Paul ging die paar Schritte bis zu seinem Frühstückstisch, um die Zeitung zu holen.
Lena überflog kopfschüttelnd den Artikel. »Mein Gott. Der Densdorf. Das ist furchtbar.«
Paul entging nicht das feine Zittern, das an ihren Händen entspringend durch ihren Körper fuhr. »Du kanntest ihn?«
»Natürlich.« Sie war jetzt kreidebleich. »Jeder kennt Helmut Densdorf – außerdem ist … war er einer der wichtigsten Fürsprecher der Dürerhaus-Sanierung. Mein Gott, wie furchtbar.«
»Ich habe für ihn gearbeitet. Bei der Eröffnung des Christkindlesmarktes.« Auf Lenas fragenden Blick hin ergänzte Paul in knappen Worten: »Vom Balkon der Frauenkirche aus. Einmalige Perspektive. Davon träumt jeder Fotograf – unter normalen Umständen jedenfalls.«
»Normal«, sagte Lena nachdenklich, »ist das alles nicht. Böse Geschichte.« Sie holte tief Luft und musste sich sammeln. Das ungeduldige Fußwippen ihres Gegenübers war ihr offensichtlich nicht verborgen geblieben. »Du meldest dich also mal bei mir?«
»Ganz sicher«, sagte Paul, »versprochen!«
Lenas Blick, der zwischen Hoffnung und Zweifel schwankte, war für ihn nicht neu. »Deine Versprechen kenne ich.«
Er zog sie sanft heran und gab ihr den seit etlichen Minuten fälligen Kuss auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich zart und warm unter seinen Lippen an. Er drückte sie fest an sich. »Das nächste Mal habe ich ganz bestimmt mehr Zeit für dich.«
»Das will ich hoffen«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Tschüss«, rief er ihr ins Treppenhaus nach, »und danke für den Clooney.« Als er die Tür ins Schloss drückte, war sein schlechtes Gewissen ihr gegenüber wieder etwas gewachsen.
Er blieb noch eine ganze Weile im Türrahmen stehen. Seine Beziehung zu Lena war eine Besonderheit. Sie hatte sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt und war gleichzeitig beständig geblieben. Sicher: Die Konstellationen, die persönlichen Einstellungen, all die wichtigen Grundvoraussetzungen des Miteinander-Auskommens hatten sich verändert. Und, ja: Paul würde wahrscheinlich mit Lena ins Bett gehen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergäbe, aber das war es wohl nicht, was sie wollte, und das konnte es auch nicht sein, was er wollte. Oder zu wollen hatte. Oder … »Ach, verfluchter Gefühlsdreck!«
Paul passierte die Mokkabraune, dachte an Sex, Liebe, Freundschaft und an verpassten Sex, verpasste Liebe, leidlich gepflegte Freundschaft. Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen. Seine Gedanken glitten zurück in die Zeit, als Lena noch keine erfolgsverwöhnte Architektin und gestandene, wenn auch mehrfach schwer enttäuschte Frau war, sondern eine nach Anerkennung und tiefen Gefühlen suchende Studentin. Sein inneres Blitzlicht flackerte auf, und er sah einzelne, unscharfe Bilder: Lena in der Kneipe, in der sie sich kennen gelernt hatten. Lena an seiner Seite, als gute Freundin und Ratgeberin bei seinen ersten Gehversuchen in der
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