Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
professionellen Werbefotografie. Lena, die Verzweifelte nach dem Unfalltod ihrer Eltern. Lena im Bett – das verpatzte erste und bislang letzte Mal. Sein übereiltes Türmen und sein mitternächtliches Bad. Der Versuch, den Beinahebetrug an seiner damaligen Freundin mit viel Schaum und Seifenwasser von Körper und Seele zu waschen.
»Verdammt!«
Er schlug mit der flachen Hand auf die Glasplatte des Schreibtischs.
»Verdammt, was war ich für ein Idiot!« Immer und immer wieder hatte er sich vorgenommen, seinen inneren Gemischtwarenladen der Gefühle endlich einmal besser in den Griff zu bekommen, doch kaum war er – wie eben mit Lena – mit der Realität konfrontiert, gerieten seine Vorsätze ins Wanken. Er atmete tief durch und ihm fielen die Negative in seinem Trockenschrank wieder ein. Sofort waren seine zwiespältigen Gedanken wie weggeblasen. Die Fotos von Densdorfs Tod! In seinen Fingerspitzen kribbelte es vor Neugierde.
Er befreite die Streifen aus dem feuchtheißen Klima des Trockenschrankes und setzte sich an den Couchtisch, um sie in handliche Abschnitte zu zerteilen.
Den ersten Abschnitt hielt er mit unguten Gefühlen gegen das Licht. Er sah dutzende stecknadelkleine Köpfe – um Densdorf erkennen zu können, würde er jeden Einzelnen herausvergrößern müssen.
Im Hintergrund dudelte noch immer die Radiomusik. Entnervt drehte er am Tuner, bis er einen Nachrichtensender eingestellt hatte. Paul stutzte beim dritten Abschnitt des fünften Negativstreifens. Er meinte, den Glühweinstand von Max zu erkennen. Obwohl er im Deuten der Falschfarben von Negativen geübt war, hatte er Schwierigkeiten, Details auszumachen. Er musste sofort einen Abzug machen!
Er ging wieder in die Dunkelkammer und ärgerte sich über die Umstände der klassischen Fotoentwicklung. Am PC hätte er die Bilder sekundenschnell darstellen und per Mausklick Details heranzoomen können. Nervös legte er mit der Rechten den Streifen in den Vergrößerungsapparat ein, während seine Linke einen Bogen Fotopapier aus schwarzer Schutzfolie zog.
Er stellte die Schärfe ein, legte die Belichtungszeit fest und schaltete das Weißlicht des Vergrößerers ein. Mit einer Greifzange beförderte er das Papier ins Entwicklerbecken. Schon nach wenigen Sekunden zeichneten sich die Konturen von Max’ Glühweinstand ab. Paul zog das Papier kurz durch das Stopperbad und schwenkte es dann in Leitungswasser, um die überschüssigen Chemikalien abzuspülen. Er hängte das Bild mit einer Klammer an eine quer durch die Dunkelkammer gespannte Wäscheleine und musterte die abgebildete Szenerie aufmerksam: Im Gang vor Max’ Stand drängelten sich die Menschen. Max selbst konnte man im Halbdunkel hinter seiner Theke höchstens erahnen. Paul konzentrierte sich auf das kaum beleuchtete Areal hinter dem Stand. Obwohl verschwommen und trüb, war das große Reservefass deutlich auszumachen. Gleich daneben meinte Paul einen Schatten zu sehen, der die Ausmaße eines menschlichen Körpers hatte. Paul trat näher an den Abzug heran, doch mehr war beim besten Willen nicht zu erkennen.
Er nahm sich den Negativstreifen noch einmal vor. Diesmal stellte er den Vergrößerer so ein, dass nur der hintere Teil des Standes abgebildet wurde. Beim Belichten wedelte er mit seiner Handfläche über die besonders dunklen Stellen der Aufnahme. Ein Trick, um verborgene Graustufen zur Geltung zu bringen.
Hastig ließ er das Papier durch die drei Bäder gleiten und hängte den Abzug neben den ersten an die Leine. Der Schatten neben dem Fass war nun klar als menschliche Silhouette zu identifizieren. Von den Proportionen her betrachtet, musste es sich um Densdorf handeln.
Paul schwitzte. Die schwüle Luft in der Dunkelkammer und die Aufregung weiteten seine Poren. Er wischte sich über die Stirn, nahm dann eine Lupe zur Hand und suchte den Rest der dunklen Fläche rings um das Glühweinfass ab.
Beinahe hätte er ihn übersehen, doch dann hielt er die Lupe direkt darüber: Kein Zweifel, da war ein zweiter Schatten! Paul fühlte, wie sein Magen vor Aufregung grummelte. Er fuhr den Schatten Millimeter für Millimeter mit seinem Vergrößerungsglas ab. Die zweite Erscheinung war kleiner als die andere. Und deutlich schmaler. Es konnte möglicherweise ein Kind sein. Aber was hatte ein Kind zusammen mit Densdorf im Versorgungshof eines Glühweinstandes zu suchen?
Paul musste eine andere Aufnahme aus dieser Reihe belichten. Er verschob den Negativstreifen in seinen Vergrößerer,
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